Beratungsstelle Zartbitter macht auf Auswirkungen aufmerksam

Opfer von sexualisierter Gewalt stellt Corona vor große Ängste

Anzeige

Viele Menschen leiden in der Corona-Krise unter sozialer Vereinzelung. Sie sehnen sich nach Kontakten und dem ganz normalen Alltag. Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, stellt die Isolierung vor besondere Herausforderungen. Das spüren die neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von "Zartbitter" in Münster jeden Tag, erklärt Astrid-Maria Kreyerhoff.

Schon, dass das Virus unsichtbar und nicht greifbar ist, könne als Trigger, als Auslöser, für eine Retraumatisierung wirken, erklärt die Leiterin der Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt. Viele Klienten erlebten, dass das Virus überall lauere, da ja keiner wisse, wer mit ihm infiziert ist und wer nicht. Weitere Ungewissheiten seien: „Wie lange muss ich mich isolieren? Wie kann ich das durchhalten, dass jemand anderes über mich bestimmt?“

 

Isolation und Kontrollverlust

 

„Die Kontaktbeschränkungen haben den Betroffenen das stabilisierende Umfeld und die Alltagstruktur genommen“, sagt sie. „Sexualisierte Gewalt ist immer mit Isolation und massivem Kontrollverlust verbunden.“ Unter der Corona-Gefahr könnten sich ähnliche Gefühle von Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und Ohnmacht einstellen wie in einer Gewaltsituation.

Die Angst vor der Ansteckung sei groß. Kreyerhoff schildert die Ängste von Betroffenen: „Vor allem das Krankenhaus ist ein rotes Tuch. Dort wird über mich bestimmt, ich werde angefasst, falle vielleicht ins künstliche Koma, verliere jede Kontrolle über mich.“

 

Probleme mit der Maskenpflicht

 

Mit der Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Einkauf in Geschäften kämen viele ebenfalls nicht zurecht. Einige Betroffene könnten sie nicht tragen, weil sie Atemnot auslösten. Andere, etwa Opfer von organisierter sexualisierter Gewalt, erinnerten die Masken an die vermummten Täter und Täterinnen.

Die Folge sei, dass sich viele Klienten, die schon lange keine Unterstützung mehr bräuchten, in der Corona-Krise wieder bei Zartbitter gemeldet haben. Für andere hätten sich die Schwerpunkte in den Beratungen völlig verändert, sagt Kreyerhoff. Früher sei es etwa darum gegangen: „Wie kann ich wieder beruflich neu Fuß fassen? Soll ich den Täter oder die Täterin anzeigen? Wie löse ich meine Beziehungsprobleme?“ Heute sei die Angst allgegenwärtig. „Auch die Weiterleitung von Klienten an Kliniken und niedergelassene Kollegen ist durch Corona erschwert“, sagt sie.

 

Durcharbeiten in der Corona-Krise

 

Während der gesamten Corona-Krise hätten die Mitarbeiter von "Zartbitter" ganz normal durchgearbeitet. „Unsere Beratungsstelle ist jeden Tag erreichbar“, betont Kreyerhoff. „Wenn uns jemand in der Nacht eine E-Mail schickt, melden wir uns in jedem Fall am nächsten Tag bei ihm.“ Keiner brauche zu warten.

„Wir beraten telefonisch, online und per Video. Im letzten Jahr ist hier vieles technisch umgestellt worden, sodass wir bereits zu Anfang der Krise schnell ins Homeoffice gehen konnten.“ Es gebe aber auch Ratsuchende, mit denen sich die Mitarbeiter draußen auf Hygiene-Abstand bei einem Spaziergang treffen, beispielsweise Hörgeschädigte. „Wir versuchen, individuelle Lösungen zu finden. Vor allem betroffene Männer tun sich schwer mit der Beratung am Telefon, etwa weil die Partnerin in der Nähe sitzt.“

 

Hoffnung auf Lockerungen

 

Eine Beratung dauere etwa eine Stunde. Auf Druck von Corona würden Betroffene dieses Angebot auch mehrfach in der Woche nutzen. Kreyerhoff setzt dennoch auf die zunehmende Lockerung der Kontakteinschränkungen durch die Bundes- und Landesregierung. „Dann wollen sicher auch mehr Menschen wieder in die Beratungsstelle kommen.“ Zudem baut sie darauf, dass die ursprünglichen Themen der Ratsuchenden stärker in den Mittelpunkt rücken. „Zurzeit haben wir es vor allem mit Krisenintervention zu tun.“

Rund 250 Personen im Jahr suchen Hilfe bei "Zartbitter". Viele neue Ratsuchende seien in der Corona-Krise nicht dazugekommen. Hilfe suchten vor allem Menschen, die den Kontakt mit den Beratern bereits hatten.

 

„Altlasten aus kirchlichen Heimen und Milieus“

 

Gruppenarbeit könne "Zartbitter" vorerst aber nicht anbieten. „Auch die Prävention etwa in Schulen und die Fortbildungen liegen zurzeit brach.“ Eine weitere Veränderung hat Kreyerhoff festgestellt: Waren früher zwei Drittel der Ratsuchenden weiblich und ein Drittel männlich, sei das Verhältnis heute halbe-halbe.

"Zartbitter" werde aktuell zudem mit den „Altlasten aus kirchlichen Heimen und Milieus“ konfrontiert. „Es gibt viele Männer darunter, die zum Beispiel Messdiener waren.“ Auch aktuelle Fälle sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Milieu sind ihr bekannt. Die kirchlichen Schutzkonzepte im Umgang mit Kindern und Jugendlichen würden zwar helfen, sexualisierte Übergriffe zu vermeiden. „Sie sind aber keine 100-prozentige Garantie“, so Kreyerhoff.

Kontakt: „Zartbitter Münster“, Hammer Straße 220, Telefon: 0251/4140555, E-Mail: info@zartbitter-muenster.de. Die Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt ist täglich besetzt, auch über die angegebenen Sprechzeiten hinaus. Das Angebot richtet sich an Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Behinderung.
Eine Übersicht über Kontakt-Möglichkeiten zu den unabhängigen Ansprecherpersonen für Betroffene von sexuellem Missbrauch durch Geistliche oder Mitarbeiter der Kirche gibt es hier.

Anzeige