Jochen Sautermeister zur geplanten Abschaffung des Abtreibungs-Gesetzes

Paragraph 218 – Selbstbestimmung contra Lebensschutz führt nicht weiter

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Wenn die Ampel-Koaltion tatsächlich den Abtreibungs-Paragraphen 218 abschafft, könnte das eine Verschiebung der Koordinaten zur Folge haben: Selbstbestimmung vor Lebensschutz. Der Bonner Moraltheologe Jochen Sautermeister plädiert im Gast-Kommentar hingegen für eine doppelte Anwaltschaft. Dann müsste die Kirche aber ihre Position zur Konfliktberatung überdenken.

Die Diskussion um die rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs hat wieder Fahrt aufgenommen. Anfang des Jahres hat Bundesfamilienministerin Paus ihr Vorhaben bekräftigt, den § 218 StGB streichen zu wollen. Gemäß dem Koalitionsvertrag prüft inzwischen eine Kommission, ob dieser Paragraph aufgehoben bzw. der Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs geregelt werden soll.

Nachdem im Sommer 2022 der Bundestag bereits die ersatzlose Streichung des § 219a StGB beschlossen hat, in dem es um das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche ging, will die Koalition nun also noch weitreichendere rechtliche Reformen in Angriff nehmen.

Rechtlicher Paradigmenwechsel

Der Autor:
Jochen Sautermeister ist Professor für Moraltheologie an der Universität Bonn. Im Herbst wechselt er an die Universität Freiburg.

Der avisierte Umbau ist durchaus ambitioniert. Anstatt kleinerer Korrekturen wird eine Verschiebung des rechtlichen Koordinatensystems angezielt. Diese soll dazu dienen, eine lebens- und bioethische Neujustierung vorzunehmen. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Artikel 2 des Grundgesetztes in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot (Art. 3 GG) fungiert dabei als rechtssystematischer Ansatzpunkt für den Paradigmenwechsel.

Unter der Maßgabe reproduktiver Autonomie könnte in Zukunft ein eigenes Reproduktionsmedizingesetz in Kraft treten, das den hart erkämpften Kompromiss zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs aufhebt: rechtswidrig, aber straffrei unter bestimmten Bedingungen.

Individualrecht trotz Zeugung durch zwei?

Der Moraltheologe Konrad Hilpert hat jüngst hervorgehoben, dass es sich bei dem Anspruch auf reproduktive Autonomie um keine verfassungsrechtliche Kategorie handelt. Er findet sich in keinem maßgeblichen Gesetzestext oder Rechtskodex wieder. Sobald das Recht auf reproduktive Autonomie zum Individualrecht wird, bleibt außer Acht, dass an der Zeugung menschlichen Lebens immer eine zweite Person beteiligt ist.

Selbstbestimmung im Kontext von Zeugung und Lebensanfang ist damit lebensweltlich anders eingebettet als Autonomie am Lebensende. Dieser Unterschied darf nicht verwischt werden. Und mehr noch: Die Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs in einem eigenen Reproduktionsmedizingesetz kann dazu verleiten, den Schutz des ungeborenen Lebens aus dem Blick zu verlieren. Dieses ist aber ebenfalls grundgesetzlich geschützt.

Doppelte Anwaltschaft

Einfache Lösungen verbieten sich daher. Das Selbstbestimmungsrecht der Frau gegen den Lebensschutz auszuspielen, führt nicht weiter. Es wird den Frauen in der existenziellen Not eines Schwangerschaftskonflikts ebenso wenig gerecht wie dem ungeborenen Menschen. Vielmehr ist eine doppelte Anwaltschaft von Nöten, die dieses moralische Spannungsfeld im Leben von Frauen und ihrem sozialen Umfeld ernst nimmt und nicht durch den Rekurs auf eine einzige Rechtsfigur verharmlost.

Die Voraussetzung der Schwangerenkonfliktberatung ist keine lästige Pflicht, sondern – wie die Beratungsdienste immer wieder betonen – zugleich ein Hilfsangebot für Frauen. Wenn die Kirche ihr Plädoyer für eine doppelte Anwaltschaft ernst nehmen möchte, sollte sie auch ihre Position zur Schwangerenkonfliktberatung überdenken. Denn nur so kann sie sich auch im politischen Diskurs glaubwürdig dafür einsetzen, dass der Kompromiss für Paragraph 218 StGB nicht angetastet wird.

In unseren Gastkommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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