Norbert Caßens über Verdopplung der Kirchenaustrittszahlen in Nottuln

Pfarrer: „Austritte kommen aus der Mitte des aktiven Pfarreilebens“

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In der 11.200 Mitglieder zählenden Pfarrei St. Martin in Nottuln im Kreis Coesfeld war die Zahl der Kirchenaustritte mit 253 Frauen und Männern im Jahr 2022 die höchste in der bisherigen Geschichte. Im Vergleich zu 2021 hat sich die Zahl der Ausgetretenen nahezu verdoppelt. Was die Zahlen aussagen und wie auf den Mitgliederschwund zu reagieren ist, darüber spricht der leitende Pfarrer in Nottuln, Norbert Caßens, in einem Gespräch mit „Kirche-und-Leben.de“.

Herr Caßens, die Jahresstatistik für 2022 zeigt wieder einen Rekord an Kirchenaustritten in Deutschland. Auch in Ihrer Pfarrei in Nottuln gab es 2022 eine hohe Zahl an Kirchenaustritten, im Vergleich zu 2021 sogar eine Verdopplung. Wie nehmen Sie diese Zahlen wahr?

Jeder einzelne dieser Kirchenaustritte nagt an mir. Besonders, weil ich von Jahr zu Jahr immer mehr Menschen persönlich kenne und gute Erinnerungen an schöne Begegnungen mit ihnen habe. Das liegt vielleicht daran, dass ich mittlerweile über 13 Jahre Pfarrer hier in Nottuln bin, aber vielleicht auch daran, dass immer mehr Menschen austreten, die aus der „Mitte“ des aktiven Pfarrlebens kommen und die zum Teil auch weiterhin ehrenamtlich aktiv sind und auch hin und wieder zur Messe kommen und teilweise auch die Kommunion empfangen.

Wie versuchen Sie, mit den Austrittswilligen und Ausgetretenen ins Gespräch zu kommen?

Alle Menschen, die ausgetreten sind, bekommen von mir einen Brief, in dem ich ihnen danke für ihre lange Kirchenmitgliedschaft und für all das, was sie mit ihrer Kirchensteuer möglich gemacht haben. Ich frage nach den Gründen und biete ein persönliches Gespräch an. Pro Jahr reagieren aber leider nur zwei bis vier der Angeschriebenen. Entweder nehmen sie das Gesprächsangebot an oder schreiben mir. Und jedes Mal betonen sie, dass sie nicht die christlichen Werte ablehnen, die meisten, dass sie weiterhin an Gott glauben und dass sie mit der konkreten Pfarrei vor Ort positive Erlebnisse verbinden.

Welche Gründe werden für den Austritt genannt?

Als Ursache benennen sie die „Großwetterlage“: Die als stockend empfundene Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche, den mangelnden Willen zu tiefgreifenden Reformen, besonders wenn es um die Verteilung von Macht in der Kirche geht, oder einfach auch den Kölner Kardinal Woelki als Prototyp einer Kirche, die sie überwunden wissen wollen.

Was steckt hinter der Entfremdung von der Kirche?

Pfarrer Norbert Caßens leitet seit 13 Jahren die Pfarrei St. Martin in Nottuln. | Foto: Michael Bönte
Pfarrer Norbert Caßens leitet seit 13 Jahren die Pfarrei St. Martin in Nottuln. | Foto: Michael Bönte

Ich habe den Eindruck, dass die Gründe für einen Kirchenaustritt vielfältige Ursachen haben. Auch Themen wie eine steigende Institutions-Fremdheit – beispielsweise bei den politischen Parteien und Gewerkschaften -, den Verlust des jüdisch-christlichen Offenbarungsgottes in unserer Gesellschaft, den Verlust kirchlicher Relevanz im öffentlichen Leben und die als immer stärker empfundene Kluft zwischen den persönlichen Werten und den Vorstellungen der amtlich verfassten Kirche werden berührt. Und – etwas böse gedacht – scheint es momentan bei einigen auch einfach „in“ zu sein, der Zeitgeist zu sein, auszutreten, ohne sich mit dem Thema Kirche wirklich inhaltlich zu befassen.

Was bleibt nach den Gesprächen mit den Ausgetretenen?

Bei einigen Gesprächen bin ich erschüttert, wie gedankenlos Menschen austreten. Bei anderen Gesprächen bin ich berührt, wie tief Verletzungsgeschichten reichen, wie tief die Entfremdung zwischen Menschen und Kirche geworden ist. Bei wiederum anderen Gesprächen kann ich nachvollziehen, dass tolle Menschen aus ihrem Gewissen heraus austreten müssen und doch weiter sehr glaubwürdig ihr Christentum leben.

Was erhoffen Sie sich als leitender Pfarrer im Münsterland und damit als Seelsorger vor Ort von der nahen Kirchenzukunft?

Für die Zukunft wünsche ich mir als Pfarrer, dass wir neue Wege des Kirche-Seins finden und uns als Gemeinde und Sammlungsorte verstehen. Lebensorte des Glaubens wie unsere Schulen und Kitas gehören dazu. Die Kirche muss eine Sprache finden, zum Beispiel in der Liturgie, die Lust auf Gott macht. Ich wünsche mir, dass wir mit unserer Zuwendung zu den Menschen und ihren Sorgen überzeugend wirken. Dass wir eine Entdecker-Mentalität entwickeln, wo Kirche bei den Menschen von heute längst lebt, ohne dass wir sie ausreichend kennen. Der Heilige Geist ist so überraschend! Und als Pfarrer im Münsterland wünsche ich mir auch die Rückendeckung der Kirchenleitung, einen Geist des Vertrauens und nicht des Verdachts, wenn wir vor Ort neue Wege gehen. Weihbischöfe zum Beispiel, die vornehmlich als Kontroll-Instanz auftreten, braucht es sicher nicht mehr.

Austrittszahlen in der Pfarrei St. Martinus in Nottuln
In der Pfarrei St. Martin in Nottuln war die Zahl der Kirchenaustritte mit 253 Personen im Jahr 2022 die höchste in ihrer Geschichte. Zahlen zum Vergleich: 2017 verließen 54 Frauen und Männer die Kirche, 2018 waren es 58, 2019 dann 121. 2020 zählte die Pfarrei 80 Austritte, 2021 waren es 128.

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