Niehues: „Priesterwerden war noch nie so spannend“

Priesterausbilder sieht Potenzial im Seelsorgermangel

Immer weniger junge Männer wollen Priester werden. Hartmut Niehues, Leiter des Priesterseminars in Münster, glaubt die Ursache zu kennen. Um sie zu beheben, bedarf es nach seiner Ansicht der Hilfe aller Katholiken.

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Immer weniger junge Männer wollen Priester werden. Hartmut Niehues, Leiter des Priesterseminars in Münster, glaubt eine Ursache zu kennen. Um sie zu beheben, bedarf es nach seiner Ansicht der Hilfe aller Katholiken.

Kirche+Leben: „Das System, wie es bisher besteht, ist am Ende“ – dieser Satz von Ihnen im Interview mit „Kirche+Leben“ hat im letzten Jahr für viel Wirbel gesorgt. Lassen sie den ein Jahr später noch so stehen?

Hartmut Niehues: Ja. Das mache ich an zwei Beispielen fest. Zum einen sind da die Pfarreistrukturen, die sich in den letzten Jahren durch Fusionen stark verändert haben. Zum anderen haben wir den Nachwuchsmangel in der Priesterausbildung: die Bistümer Essen und Trier zum Beispiel haben ihre Priesterseminare geschlossen. Diese Beispiele zeigen, dass das System, nach dem wir bisher gearbeitet haben, nicht mehr funktioniert.

Haben Sie die Reaktionen auf das Interview überrascht?

Was ich gesagt habe, waren keine großen Neuigkeiten. Das hätte schon bekannt sein müssen. Mich hat das große Echo im vergangen Jahr sehr überrascht. Ein Punkt tauchte in den Reaktionen immer wieder auf: Gut, dass es mal einer so offen sagt! Auch das hat mich irritiert. Weil es mit dem Aussprechen einer Wahrheit ja nicht getan ist. Es gab auch kritische Anfragen.

Welche?

Zum Beispiel, ob durch diese negativ klingende Aussage nicht noch die letzten Interessierten am Priesterberuf verschreckt würden. Diese Anfragen nehme ich ernst. Aber es geht ja nicht darum, schwarz zu malen und Leuten die Lust am Katholischsein zu nehmen. Im Gegenteil: Ich glaube, es gibt keine spannendere und herausforderndere Zeit für junge Leute als diese, um Priester zu werden. Vieles in der Kirche und dem Rest der Welt ist im Umbruch. Das schafft Verunsicherung. Aber mit dem Glauben, den wir haben, im Hintergrund, ist das eine großartige Aufgabe: das Neue zu entdecken, wohin uns Christus führen will. Insofern ist Priesterwerden heute etwas für mutige Leute, die sich vom Ziel begeistern lassen – Christus und seine Botschaft – und die bereit sind, mit ihrem Leben etwas zu wagen. Ich finde das sehr attraktiv.

Kann denn ein einzelner Priester an dem System etwas ändern?

Nein. Die Kirche gestalten kann ein Priester niemals allein. Dürfte er auch gar nicht. Er ist immer als Teil der Glaubensgemeinschaft unterwegs mit den anderen. Dieses Miteinander zu stärken, ist für unsere Kirche unerlässlich.

Die Bischöfe haben das Papier „Gemeinsam Kirche sein“ veröffentlicht. Darin steht, dass es keine Trennung geben darf zwischen den engagierten Christen auf der einen und den Priestern auf der anderen Seite. Diese Trennung zu überwinden, ist eine große Herausforderung unserer Zeit. An vielen Orten geschieht das ja auch. Da gibt es wirklich ein partnerschaftliches Miteinander aller, die zum Volk Gottes gehören. Aufgabe der Priester dabei ist dann, die Getauften zu stärken und mit ihnen gemeinsam Hoffnungsträger für die Welt zu sein.

Und damit ist der Abwärtstrend in der Kirche behoben?

Nein, aber es könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Welche anderen Punkte gibt es?

Natürlich kann man an den Zugangswegen zum Priestertum ansetzen. Das ist eine Frage, an der wir nicht vorbeikommen. Auch die Frage nach einem Weiheamt für Frauen ist wichtig.

Die Ursachen unserer Situation liegen aber tiefer. Meines Erachtens stecken wir in einer echten Krise des Glaubens: Wir leben heute in einer Situation, in der Menschen mit den Sakramenten des täglichen Lebens nichts mehr anfangen können. Eucharistie und das Sakrament der Versöhnung spielen für die Meisten keine Rolle mehr. Welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Die Sakramente einfach beiseite zu lassen und nach Alternativen zu suchen, halte ich für falsch. Denn die Eucharistie ist ja ein großartiges Geschenk: Wir sind Gott so wichtig, dass er Mensch geworden ist für uns und dass er über sein menschliches Leben hinaus greifbar und erfahrbar bei uns bleiben will.

Das Zweite Vatikanische Konzil bezeichnet die Eucharistie als Quelle und Gipfel allen kirchlichen Tuns. Wenn das Verständnis dafür heute abhanden gekommen ist, muss ich mich doch fragen: Welche Zugänge können wir dafür neu finden? Diese Frage müssen wir auch im Blick auf die Seelsorgestudie und die Relevanz der Sakramente für die verschiedenen pastoralen Berufsgruppen stellen.

Ist das mit einer neuen Gottesdienstgestaltung getan?

Das ist ein wichtiger Punkt. Aber die Form ist nicht das einzige. Noch wichtiger ist die Frage, wie wir für Menschen unseren Glauben erlebbar machen. Und zwar in einer Weise, dass sich auch junge Menschen dort beheimatet fühlen. Dass wir Orte schaffen, wo sie spüren, dass sie Jesus Christus begegnen können. Das Wichtigste ist heute, Menschen zu einer persönlichen Beziehung zu Christus zu führen. Darauf sollte unser Bestreben gerichtet sein. Wir brauchen eine neue Dynamik: Die Christusbeziehung erwacht in den Herzen der Menschen. Nur aus lebendigen Glaubenserfahrungen heraus können sich Menschen die Frage stellen: Was hat Gott mit mir und meinem Leben vor?

Wenn die Menschen nicht mehr zum Gottesdienst kommen, wie kann Kirche sie dann erreichen?

Glauben – und zwar der persönliche Glaube, nicht die Diskussion um Strukturen – darf für uns kein Tabuthema mehr sein. Wenn wir uns trauen, im Alltag von unseren Erfahrungen mit Christus zu erzählen, können wir unsere Mitmenschen ganz schlicht einladen, dabei zu sein.

Befragungen unter Seminaristen in den USA zeigen: Für viele war es für ihre Berufung wichtig, dass sie angesprochen wurden, ob sie schon mal darüber nachgedacht hätten, Priester zu werden. Das finde ich wichtig. Nicht um Druck auszuüben. Das verbietet sich. Aber wir sollten jedem Menschen mit der Absicht begegnen, ihn zu unterstützen, seinen Lebensweg mit Gott gehen zu können. Dann heißt das nichts anderes, als seine Berufung zu finden. In diesem Sinn ist jede Pastoral Berufungspastoral – egal ob einer Priester wird oder eine Familie gründet und in seinem Beruf als Christ lebt.

Welche Rolle spielt da das Priesterseminar?

Ich verstehe das Priesterseminar als Haus, wo junge Männer ihre Berufung entdecken und prüfen können. Das Entscheidende ist nicht, dass sie unbedingt Priester werden. Sondern das Entscheidende ist, dass sie ihren Weg mit Gott gehen und ihre Berufung finden. Es gibt viele, die es ausprobiert und festgestellt haben, dass das nicht ihr Weg ist. Das ist auch in Ordnung.

Ich wünsche mir, dass junge Leute um die Möglichkeiten wissen, die sie hier im Priesterseminar haben. Wenn sie sich mit dem Gedanken befassen, ihr Leben aus dem Glauben heraus zu gestalten, vielleicht Priester zu werden, können sie hierher kommen. Dafür muss nicht alles von vornherein klar sein. Sie dürfen wissen: da sind noch andere, die mit ähnlichen Fragen unterwegs sind. Dazu hilft es übrigens auch, dass wir auch Studenten anderer Fächer bei uns im Haus haben, die eben nicht Priester werden.

Die Initiative „Lass dich berufen“ soll aktuell für den Priesterberuf werben. Erleben wir demnächst einen Berufungs-Boom?

Jede Initiative, die deutlich macht, „Ja, wir wollen Priester für unsere Kirche!“, ist für mich wertvoll. Dass sich das nachher zahlenmäßig niederschlägt, wäre natürlich wünschenswert. Aber es liegt letztendlich nicht in unserer Hand. Wir können Berufungen nicht machen.

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