Sozial-Experte warnt vor wachsender Energiearmut

Schreckgespenst Stromsperre – Caritas fordert neue Hartz-IV-Regelsätze

  • Knapp 230.000 Menschen wurde 2020 der Strom wegen Zahlungsrückstand zumindest zeitweise abgestellt.
  • Hartz-IV-Empfänger waren besonders oft von der Maßnahme betroffen. Im kommenden Jahr drohen noch höhere Zahlen, wegen der Explosion der Energiepreise.
  • Die oldenburgische Caritas fordert deshalb von der Politik, die Hartz-IV-Regelsätze anzupassen, und zwar auch kurzfristig.

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„Unsere Caritas-Beratungsstellen bekommen öfter Anfragen von Menschen, denen Strom oder Gas abgestellt werden.“ Dietmar Fangmann kennt das Phänomen. Als Referent für allgemeine Sozialberatung beim oldenburgischen Landes-Caritasverband kümmert er sich von Vechta aus unter anderem um die Gewährung von Hilfen bei besonderen Härtefällen.

Mit denen wird er es in den kommenden Monaten wohl deutlich öfter zu tun haben. Der Grund: Die explosionsartig steigenden Energiekosten. Denn: Was Gutverdiener als Unannehmlichkeit empfinden, wird für Hartz-IV-Bezieher schnell bedrohlich. Wenn sie mit den Zahlungen in Verzug sind, drohen Stromsperren. Da reichen auch schon 100 Euro im Minus (siehe Infokasten).

 

Angst vor der Jahresabrechnung

 

Schon jetzt machen sich immer mehr Betroffene deshalb Sorgen. Kein Wunder, wo doch schon seit Wochen auf allen Kanälen von drastischen Preiserhöhungen die Rede ist. Die werden sie spätestens im kommenden Jahr auf der Jahresabrechnung wiederfinden. Und manch einer wird sich wohl erschrecken.

Eine Umfrage Fangmanns bei oldenburgischen Caritas-Beratungsstellen untermauert dies. Der Großteil berichtet von mehr Beratungsbedarf wegen finanzieller Engpässe. „Eine Beraterin aus Friesoythe erklärte, dass schon jetzt immer mehr Gespräche um die Sorge wegen steigender Energiekosten kreisen.“

 

Preisexplosion und Pandemie kommen zusammen

 

Dietmar Fangmann
Dietmar Fangmann ist beim oldenburgischen Landes-Caritasverband in Vechta unter anderem zuständig für den Bereich allgemeine Sozialberatung. | Foto: Michael Rottmann

Fangmann ist sich sicher: „In unseren Beratungsstellen werden noch mehr Menschen auftauchen, die sagen: Ich habe die Abschlussrechnung bekommen und kann sie nicht bezahlen.“ Er nennt das Phänomen „Energiearmut“ und sagt voraus: „Das wird ein riesiges Problem der kommenden Monate werden.“ Und es kommt auf die Folgen der Pandemie noch obendrauf.

Das deckt sich mit Erfahrungen und Erwartungen der Schuldnerberatungsstellen in Deutschland. Eine aktuelle Umfrage dazu zeigt: Bei über zwei Dritteln der befragten Beratungsstellen erhöhte sich die Anzahl der Anfragen im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie. Bei fast der Hälfte betrug der Anstieg zwischen zehn und 30 Prozent.

 

Beratungsbedarf steigt

 

Knapp ein Fünftel der Beratungsstellen beobachtete bereits in diesem Jahr eine Zunahme des Beratungsbedarfs um mehr als 30 Prozent. Insgesamt beteiligten sich 461 Beratungsstellen an der Umfrage, davon knapp 300 von Caritas und Diakonie. In über einem Viertel (28 Prozent) der Beratungsstellen war die erhöhte Nachfrage nach Beratung auf Miet- und Energieschulden zurückzuführen.

Dietmar Fangmann erklärt, wie sich die Folgen von Pandemie und Energiepreis-Explosion gegenseitig noch verstärken: „Die Menschen mussten wegen Corona häufiger zu Hause sein und allein deshalb schon mehr Strom brauchen.“ Dazu komme das begrenzte Budget der Betroffenen. „Sie können sich einfach nicht den modernsten Triple-A-Kühlschrank mit höchster Energieeffizienz leisten. Auch deshalb brauchen sie mehr Strom als der Durchschnitt. Und je höher die Strompreise steigen, desto größer wird das Problem.“ Spätestens mit der Jahresabrechnung im kommenden Jahr würde es sichtbar werden.

Fangmann fordert daher: „Die jetzige Strompreiserhöhung mit um 30 bis 40 Prozent höheren Strompreisen muss im Regelsatz berücksichtigt werden. Das ist eine Anforderung an die Politik, sich die Regelsätze anzuschauen und auch unterjährig, kurzfristig anzupassen.“

Stichwort: Stromsperre
Im vergangenen Jahr war nach Agenturberichten bundesweit 230.000 Bürgern der Strom abgesperrt worden, rund 20 Prozent weniger als im Vorjahr. Der Grund dafür lag in besonderen gesetzlichen Stundungsregelungen wegen der Corona-Pandemie, die aber zum 30. Juni ausgelaufen sind. Außerdem hatten manche Stromanbieter freiwillig auf Sperrungen verzichtet.
Bereits ab einem Zahlungsverzug von 100 Euro kann ein Anbieter den Strom sperren. Dafür muss er nach Information der Verbraucherzentrale aber bestimmte Bedingungen erfüllen. So muss er zum Beispiel die Sperre vier Wochen zuvor angedroht und drei Werktage vor Vollzug angekündigt haben.

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