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„Dunkle und schwere Zeiten“ hat Bundeskanzlerin Angela Merkel für die kommenden Wochen prophezeit. Nicht nur, dass der November mit seinen kürzer werdenden Tagen immer das Potential hat, dunkle Gedanken anzustoßen. In diesem Jahr kommt mit der Corona-Pandemie und den verschärften Gegenmaßnahmen bis mindestens Ende des Monats noch weiterer Ballast dazu. Die Pastoralreferentin und Religionspädagogin Iris Horstmann sieht im christlichen Umgang mit diesem Jahresabschnitt aber eine außergewöhnliche Chance.
„Der November ist in jedem Kirchenjahr eine Zeit, die sich damit beschäftigt, dass es immer wieder Dunkelheit in unserem Leben gibt und geben kann“, sagt die 53-Jährig aus Enschede, die im Bistum Münster in der pastoralpsychologischen Ausbildung arbeitet. „Im Grunde hält es uns Menschen an, stehen zu bleiben und hinzuschauen: Mangel, Verlust, Angst, Brüche gehören zur menschlichen Existenz, zur Geschichte der Menschheit dazu!“
Abschiede und Enttäuschungen
Das Gefühl der Krise passt in diese Jahreszeit, sagt Horstmann. Der Gedanke der Vergänglichkeit werde durch die verblühende Natur unterstrichen. Weniger Licht und niedrige Temperaturen machten sensibel für die Auseinandersetzung mit „inwendigen- seelischen Themen“. Deshalb bleibe kein Lebenslauf davon unberührt: „Die leiblichen Eltern sterben irgendwann, Konflikte auf der Arbeit, durchkreuzte Pläne, das Scheitern einer Ehe, Krankheit...“ Der November sei deshalb wie eine „Trainingseinheit“ für Lebensbrüche, Abschiede und Enttäuschungen.
Das ist in Horstmanns Augen charakteristische für den christlichen Glauben: „Es geht nicht um Schmerzvermeidung, es geht nicht um eine Art Wellnessglauben welcher für die Herstellung guter Gefühle zuständig ist.“ Dann würde der Mensch als Ganzes nicht ernstgenommen, sagt sie. „Wir sind doch verwundbar, verletzlich und sterblich – das darf unser Glaube nicht bagatellisieren oder verstecken.“ Entscheidend sei, dass dafür eine Haltung gefunden werde: „Durch das Dunkel hindurch, durch die Tiefschichten der menschlichen Existenz, so verspricht uns unser Glaube, führt dieser uns ans Licht.“ Das, was dem Menschen unerträglich erscheine, werde in „Verbundenheit und Hinwendung auf Gott“ verwandelt.
Besonders große Herausforderungen im Corona-Jahr
Iris Horstmann arbeitet in der pastoralpsychologischen Ausbildung des Bistums Münster. | Foto: Anke Lucht (pbm)
Im Jahr 2020 ist diese Herausforderung sicher besonders groß. Nicht nur Allerseelen und Allerheiligen haben Tod und Trauer ins Bewusstsein geholt. Die Menschen gehen auch mit vielen Erlebnissen und Ängsten der Corona-Zeit in die letzten Monate des Jahres. Hinzu kommt, dass durch die derzeitigen Einschränkungen viele Routinen und Selbstverständlichkeiten im Umgang mit diesen Gefühlen nicht gegeben sind. Besuchs-Verbote, Gottesdienstauflagen oder reduzierte Möglichkeiten bei Trauerfeiern gehören dazu. Welche Haltung kann gerade jetzt Halt geben?
„So banal es auch klingt – aber ich denke, das Gebet ist der tägliche Weg zu diesem Halt“, sagt Horstmann. Die Formen grenzt sie dabei nicht ein. Gerade die eingeschränkte Lockdown-Situation macht für sie das Wesen oder das wesentliche eines Gebetes noch deutlicher: „Entscheidend ist, dass ich darin die Beziehung zu Gott pflege, es geht um den Kontakt, die Verbundenheit, das Berühren und Berührtwerden, um eine eigene Form der Durchlässigkeit und Transparenz zwischen Himmel und Erde.“ Wer diese Form regelmäßig pflege, schule sein Herz, erfülle es und finde eben jenen Halt. Horstmann beschreibt es am Beispiel körperlicher Fitness: „Das Gebet ist eine Art Herzens-Jogging, in dem ich es regelmäßig mache, entfaltet es genau dort seine Wirkung.“
Lieblingsübung Ikonen-Betrachtung
Sie selbst hat eine Lieblingsübung für dieses Training – die Ikonen-Betrachtung. „Diese Bilder sind wie Passfotos, wie ein Identitätsnachweis – so ist Gott.“ Damit könne die göttliche Wirklichkeit erlebt werden. „Für eine tägliche Übung muss es aber keine Ikone sein“, sagt Horstmann. „Es kann jedes Bild sein, das mich emotional und spirituell anspricht.“ Darstellungen, die uns berühren, die Gefühle in uns wecken, eine tiefe Ausstrahlung entwickeln. „Vielleicht eignet sich dazu auch ein Urlaubsfoto.“ Dieses in Ruhe zu betrachten, bringe eine Ahnung von der Kraft Gottes zum Vorschein. Wie es im Psalm 126 stehe: „Verwandlung und Stärkung ist möglich, wenn wir Gott in unser Leben einbeziehen.“
Solche Gebetsformen können einen unerlässlichen Beitrag für Menschen in dieser Corona Krise sein, sagt Horstmann. „Die Antwort darauf, wie eine moderne Gesellschaft mit Tod, Vergänglichkeit und Verletzlichkeit umgehen kann, geben derzeit weder Politiker noch Virologen.“ Sie stellt die Frage provokant: „Was hält unsere Gesellschaft in diesen Tagen zusammen, was baut den Menschen auf, wenn wir nicht arbeiten, konsumieren, Party machen und ausgehen können?“ Und liefert die Antwort dazu: „Der christliche Glaube bietet die Möglichkeit, etwas anderes ins Spiel zu bringen – das Gebet, welches den Menschen in Kontakt bringt mit sich selbst, den Mitmenschen und mit Gott.“
Sechs Gebetsübungen für den November von Iris Horstmann
Die Gebetsübungen helfen eine Verbundenheit und eine Beziehungsfähigkeit zu Gott zu stärken. Für alle Übung gilt die Gebrauchsanweisung: Nehmen Sie sich Raum, Zeit und wiederholen Sie sie.
1. „Steht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Lukas 21,28)
Der Mensch als Leib und Seele Einheit reagiert in der Regel gut darauf, wenn der Körper als Gebetsraum einbezogen wird. Als guter Start in den Morgen oder zum Abschluss eines Tages setzen Sie sich einfach auf einen Stuhl und nehmen wahr, mit welcher Körperhaltung Sie der Situation des Novembers und der Corona-Zeit begegnen. Sind Sie zusammengesackt, ängstlich, unruhig oder zweifelnd? Richten Sie sich dann auf, nehmen Sie Spannung auf, strecken Sie die Schultern und zeigen Sie Größe. Das kann einen Energiefluss auslösen.
2. „Als ich lernte, jeden Abend Danke zu sagen veränderte sich mein ganzes Leben.“ (Dorothee Sölle, evangelische Theologin und Dichterin, + 2003)
Nehmen Sie sich vor, einmal in der Woche Ihre Kontakte im Handy, Computer oder Telefonregister durchzuschauen. Versenden Sie dann ein paar gute Gedanken oder Worte an Freunde, Bekannte, Verwandte oder Kollegen. Tun Sie das ohne Erwartung auf eine Rückmeldung. Raus aus dem Tunnelblick ins Dunkel. Das eröffnet den Blick auf die Qualität von Beziehungen.
3. „Wolken! Welch unerschöpflicher Grund des Entzückens für ein paar Menschen Augen.“ (Rosa Luxemburg, Vertreterin der europäischen Arbeiterbewegung in Zeiten der Industrialisierung, + 1919).
Lassen Sie Ihre Augen auf einen Spruch, vielleicht einem Bibelvers ruhen, der ihre Kräfte mobilisiert. Vielleicht legen Sie diesen Vers an einen zentralen Platz, an dem Sie am Tag öfters vorbeikommen. Schauen Sie ihn immer wieder an und nehmen sich Zeit, lassen Sie sich ansprechen, gehen Sie in den inneren Dialog.
4. „Tausend Jahre wie ein Tag, was auch kommen mag, …du weißt um mich.“ (Gregor Linßen, Komponist und Liedermacher)
Wissen Sie noch, was Sie für Musik gehört haben, als Sie zum ersten Mal verliebt waren? Oder welche Musik zu Ihren besten Zeiten spielte? Suchen Sie die Aufnahmen heraus oder laden Sie sie aus dem Internet herunter. Und dann nehmen Sie regelmäßig ein Musik-Bad – es wirkt belebend und erfrischend.
5. „Maria aber hielt all die Worte verwahrt und fügte sie in ihrem Herzen zusammen.“ (Lukas 2,19)
Wenn Sie vor lauter Sorgen und Gedanken nicht schlafen und Sie aus dem Gedankenkarussell nicht austeigen können, dann legen Sie für einen Moment eine Hand auf Ihr Herz und fühlen Sie die Wärme. Sie verbinden sich so mit dem Wesentlichen, denn das wohnt in Ihrem Herzen.
6. „Kochen und Essen bringt die Seele nach Hause.“
Davon berichten viele Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen, wenn das Heimweh besonders groß ist nach Freunden und Familien. Dann kochen sie ihr Lieblingsgericht, vielleicht aus Kindertagen. Das hilft auch Ihnen in dieser Zeit. Decken Sie sich den Tisch besonders schön und essen Sie die Speisen bewusst. Lassen Sie dabei Geschichten und Bilder aufsteigen.