Frömmigkeit auf neuen Wegen (4) - in einem Mehrfamilienhaus in Münster

Spontane Idee im Lockdown: Treppenhaus-Gottesdienste unter Nachbarn

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Die Kirche gehörte früher selbstverständlich dazu – von den Festen im Jahreslauf bis hin zu prägenden Ereignissen im individuellen Leben. Heute sind die kirchlichen Bezüge lockerer geworden – was jedoch nicht bedeuten muss, dass die Menschen weniger gläubig sind. In Münster ist in der Not des Lockdowns ein ganz neues Format entstanden - und zwar Treppenhaus-Gottesdienste.

Und dann brannten die Kerzen im Treppenhaus. Klaviermusik erfüllte das Mehrfamilienhaus in Münster. Ein Tau schlängelte sich die Stufen zu den Etagen herauf und verband die Menschen vor ihren Wohnungstüren miteinander. Es wurde Gottesdienst gefeiert an einem wirklich außergewöhnlichen Ort. Weit entfernt von Chorraum, Orgelklängen und Hochgebet. Die Hausgemeinschaft war dort zusammengekommen, wo sich ihr Leben abspielte. Das war am Palmsonntag 2020.

Die Idee kam aus der Not des Lockdowns im ersten Pandemie-Jahr. Regina Laudage-Kleeberg saß mit Mann und zwei kleinen Kinder im fünften Stock und schaute auf die nahende Osterzeit. „Es war eine Zeit der Einsamkeit und Sehnsucht“, beschreibt sie die Stimmung. Was sie mit einem Zettel ändern wollte, den sie auf die Treppenstufe legte: „Wer hat Lust auf einen Gottesdienst, wer macht mit, wer nicht.“ Drei Parteien des Hauses hatten Interesse, zwei hielten sich zurück.

Wortgottesdienst mit überraschenden Elementen

Das Format war schnell gefunden. „Die klassischen Wortgottesdienst-Elemente.“ Laudage-Kleeberg nahm das in die Hand. „Lesungen, Gebete, Lieder.“ Dazu viele kleine Buchsbaum-Sträuße, die sie organisierte, und Sitzgelegenheiten auf den einzelnen Etagen. Ihr Mann schob am Abend das Klavier in die Wohnungstür und schon ging es los. „Das flackernde Licht der Kerzen durch die Geländer des Treppenhauses schaffte eine wunderbare Atmosphäre.“

So wunderbar, dass es nicht bei einer einmaligen Aktion bleiben sollte. Die Karwoche stand an und sollte mit den Eindrücken des ersten Gottesdienstes ebenfalls im Treppenhaus gestaltet werden. Gründonnerstag kamen Getränke und Brot auf jeder Etage dazu, um gemeinsam essen zu können. Laudage-Kleeberg legte zudem duftend-dampfende Tücher aus, um sich symbolisch „den Kopf waschen zu können.“

Nachbarschaft rückt zusammen

Buchsbaum, Kerzen, Stühle – viel mehr brauchte es nicht für den ersten Gottesdienst im Treppenhaus, der an Palmsonntag 2020 gefeiert wurde. | Foto: privat
Buchsbaum, Kerzen, Stühle – viel mehr brauchte es nicht für den ersten Gottesdienst im Treppenhaus, der an Palmsonntag 2020 gefeiert wurde. | Foto: privat

Die Beteiligung an der Vorbereitung durch die anderen Hausbewohner nahm zu. Zu Karfreitag hatte die Nachbarin eine Etage unter ihnen ein Holzkreuz besorgt, mit dem es zur Kreuzverehrung in den kleinen Hinterhof-Garten ging. Es sei sehr still geworden, als nach und nach jeder Nägel aus dem Baumarkt vor das Kreuz legte. „Einige wurden auch geworfen – ein Moment großer Tiefe, den wir unter uns Nachbarn so nicht kannten.“

Ohnehin wuchs die Hausgemeinschaft erst durch diese Gottesdienste intensiv zusammen. Weit mehr als über den täglichen Gruß und das kurze Gespräch über das Wetter. In der Osternacht zogen sie durch den Fahrradkeller in den Innenhof. Der Diakon aus der ersten Etage sang das „Lumen Christi“, seine Söhne entzündeten in einer großen Schale das Osterfeuer. Zur anschließenden Feier brachte jeder etwas mit. „So ein traumhaftes Osterfest habe ich noch nie gefeiert – auch weil wir von unseren Mitbewohnern mit ihrem Engagement immer wieder überrascht wurden.“

Der Alltag passt in den Gottesdienst

Sicher, es gab einige Momente, die eigentümlich waren, gibt die Religionswissenschaftlerin zu. „Die Passion im Garten unter den Balkons der Nachbarhäuser zu beten, war schon komisch.“ Auch der Student, der mitten im Gottesdienst mit Anhang und Bier über die geschmückten Treppenstufen in seine Wohnung hinaufstieg, war gewöhnungsbedürftig. Letztlich war es aber auch das, was diese Gottesdienste ausmachte: „Sie fanden dort statt, wo wir lebten, in Situationen, die unser Alltag waren.“

Für die Bewohner des Mehrfamilienhauses hatte sich damit ein neues Gottesdienst-Format etabliert. Es folgten weitere Termine, auch eine Eucharistie mit einem befreundeten Priester wurde gefeiert. Laudage-Kleeberg ist dabei eins besonders deutlich geworden: „Wir brauchen den Mut, die Fäden selbst in die Hand zu nehmen.“ In der katholischen Kirche sei es aber ungewohnt, selbst aktiv werden zu müssen, „weil es die Angst gibt, etwas falsch zu machen.“

Liturgie bekommt neue Ausstrahlung

Mit ihren Treppenhaus-Gottesdiensten hat sie nichts falsch gemacht. Natürlich gab es Momente, denen sie mit ihrem eigenen Liturgie-Verständnis erst mit Zurückhaltung begegnete. Um sie später aber umso mehr zu genießen. „Wenn die Kinder in ihrem Bett das Halleluja aus dem Treppenhaus hören und mitsingen, ist das sicher viel eindrucksvoller für sie, als wenn sie es müde in der Kirchenbank hören und gegen die Orgel kaum ansingen können.“

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