Anzeige
Damit ein kranker Mensch leben kann, muss ein anderer sterben. Kein Wunder, dass Organspende mit Tabus und Ängsten belastet ist. Experte Dr. Michael Kros von den Alexianern in Münster beantwortet die 23 wichtigsten Fragen.
Damit ein kranker Mensch leben kann, muss ein anderer sterben. Kein Wunder, dass Organspende mit Tabus und Ängsten belastet ist. Experte Dr. Michael Kros stellt sich sämtlichen Fragen.
Herr Dr. Kros, nehmen wir folgende Situation an: Ein Mensch ist tot. Dürften dann – sein Einverständnis vorausgesetzt – immer Organe entnommen werden?
In Deutschland ist das ausschließlich möglich, wenn der Hirntod zweifelsfrei festgestellt wurde, das Herz aber noch schlägt. Das geht nur auf einer Intensivstation mit Beatmung und sonstiger Intensivtherapie. Konkret ist das denkbar bei einer schweren Hirnblutung, bei einem Schädel-Hirn-Trauma oder wenn jemand einen Herzstillstand hatte, aber erst nach zehn oder 15 Minuten wiederbelebt wurde. Dann ist das Gehirn schwerst geschädigt und geht zu Grunde, während das Herz auch nach einer Viertelstunde Kreislaufstillstand durch die Wiederbelebung wieder zu schlagen beginnen kann.
Was genau ist der Hirntod?
Man spricht von Hirntod oder auch irreversiblem Hirnfunktionsausfall, wenn alle Anteile des Gehirns, also Großhirn, Hirnstamm und Kleinhirn, unwiederbringlich zerstört, also funktionslos sind.
Zur Person
Michael Kros (48) ist Facharzt für Neurologie, Intensivmedizin und Notfallmedizin. Nach zehn Jahren als Oberarzt im Herz-Jesu-Krankenhaus in Münster-Hiltrup wechselte er 2015 in das von den Alexianern getragene Centrum für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie Münster. Seit über zehn Jahren ist er Konsiliararzt für die Deutsche Stiftung Organtransplantation. In der Zeit war er an mehr als 400 Organspenden betiligt. | Foto: Markus Nolte
Wer stellt den Hirntod fest?
Zur Diagnose sind zwei Fachärzte verpflichtend, von denen einer Neurologe oder Neurochirurg sein muss. Wenn eine Klinik diese Fachärzte nicht hat, kann sie sich an die Deutsche Stiftung Organtransplantation wenden, die dann einen solchen Facharzt zur Verfügung stellt – zum Beispiel mich. Ich bin allerdings weder dort angestellt noch zu diesem Einsatz verpflichtet, sondern entscheide ganz frei.
Wie stellen Sie den Hirntod fest?
Zunächst muss geklärt sein, ob eine schwere Hirnschädigung vorliegt. Die Ursache muss zweifelsfrei geklärt sein. So lasse ich mir zum Beispiel die Computertomographie vorlegen, die etwa eine zum Hirntod führende Hirnblutung zeigt. Dann überprüfe ich beispielsweise auch, dass keine Vergiftung vorliegt – etwa in suizidaler Absicht – oder ob auf der Station noch Narkosemedikamente gegeben wurden. Ich prüfe so alle Faktoren, die eine schwere Hirnschädigung vortäuschen könnten.
Dann untersuche ich vor allem den Kopf und die so genannten Hirnnerven. Dazu schaue ich, ob sich die Pupillen auf Lichteinfall verengen, ob die Hornhaut bei Berührung mit einem Blinzelreflex reagiert. Ich drehe den Kopf und beobachte, ob sich die Augäpfel bewegen, was wir sonst unbewusst machen. Außerdem setze ich einen Schmerzreiz an der Nase und berühre den hinteren Rachenraum. All diese Reflexe laufen beim lebenden Menschen über das Gehirn ab – im Unterschied zu anderen Reflexen, die über das Rückenmark gesteuert werden und trotz Hirnschädigung erhalten sein können.
Dann folgt die Überprüfung der Atmung, ob nicht vielleicht doch noch eine gewisse Atemtätigkeit provozierbar ist. Dazu mache ich mir zunutze, dass der Atemantrieb durch die Konzentration von Kohlendioxid im Blut entsteht. Nicht der Sauerstoffmangel bringt uns zum Atmen, sondern der Anstieg von Kohlendioxid, wenn wir es nicht abatmen.
Daher nehmen wir den Patienten von der Beatmungsmaschine, sodass der Kohlendioxid-Wert ansteigt. Wir schauen dann, ob der Patient bei einem bestimmten Wert nicht doch zu atmen beginnt. Wenn er das nicht tut, ist der Atemantrieb offensichtlich erloschen.
Das alles muss, wie gesagt, auch von einem anderen Arzt untersucht werden. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Dieselben Untersuchungen werden nach zwölf, in manchen Fällen nach 72 Stunden erneut gemacht – oder man bedient sich einer apparativen Zusatzuntersuchung, etwa der Ableitung der Hirnströme (EEG). Sollte es 30 Minuten lang eine Null-Linie geben, wäre auch die Endgültigkeit des Hirnfunktionsausfalls festgestellt.
Wie können Sie gewährleisten, dass bei den Tests der Patient keine Schmerzen oder Unannehmlichkeiten erleidet?
Wenn ich als Neurologe durch die vorangehenden Untersuchungen davon ausgehe, dass das Gehirn keine Funktion mehr hat, gehe ich auch davon aus, dass der Patient keine Schmerzen mehr spürt. Sobald ich doch eine Reaktion wahrnehme, breche ich die Untersuchung umgehend ab, denn dann liegt kein Hirntod vor.
Wie entkräften Sie die Angst, dass ausgewiesene Organspender schneller für tot erklärt werden, damit man schneller an die Organe kommt?
Die Klinik, die den potenziell Hirntoten meldet, hat außer einer Aufwandsentschädigung nichts von dieser Organspende. Wir haben eher das Problem, dass die Kliniken nicht melden, auch weil damit ein sehr großer Aufwand verbunden ist. Zudem hat die Klinik keinerlei Einfluss darauf, wohin die Spenderorgane gehen. Sie könnte also nicht sagen: Wir haben hier einen Patienten, der könnte dieses oder jenes Spenderorgan gut gebrauchen. Das ist unmöglich.
Das Herz schlägt, die Temperatur ist normal – das ist die Situation für Menschen, die am Bett eines hirntoten Angehörigen stehen. Warum bleibt die Beatmungsmaschine auch nach dem Hirntod angeschaltet?
Das Herz muss weiterschlagen, damit die Organe weiter durchblutet werden. Das Herz braucht dafür nicht das Gehirn, sondern hat einen eigenen Taktgeber. Ohne medikamentöse Unterstützung würde das Herz allerdings nach einer gewissen Zeit zu
schlagen aufhören. Die Beatmung muss weiterlaufen, damit das Blut mit Sauerstoff angereichert werden kann, was Herz und übrige Organe für ihre Funktion benötigen.
Das heißt: Für eine Organtransplantation braucht es den Hirntod, aber ein schlagendes Herz? Es ist also nicht automatisch jeder Hirntote auch potenzieller Organspender?
Genau. Weniger als 0,5 Prozent der Verstorbenen kommen für eine Organspende in Frage, eben nur dann, wenn auf der Intensivstation der Hirntod festgestellt wird.
Man hört immer wieder, dass sich bestimmte Passagen einer Patientenverfügung und ein Organspendeausweis gegenseitig ausschließen. Was ist da zu beachten?
Wenn in der Patientenverfügung angegeben wird, dass man Intensivmedizin bei schwerster Erkrankung ablehnt, wäre damit eine Organspende ausgeschlossen, die ja ohne die Intensivstation nicht möglich ist. Man sollte, wenn man mit einer Spende einverstanden ist, eine Anmerkung ergänzen, das man nur im Falle einer potenziellen Organspende mit Intensivtherapie einverstanden wäre. Modernere Formulare enthalten bereits diesen Hinweis.
Kann man nur ein einziges Organ zur Spende freigeben? Oder bestimmte Organe – etwa das Herz – ausschließen?
Das ist möglich, und das kann man auch im Organspende-Ausweis notieren. Wichtig ist aber darüber hinaus, dass die Angehörigen informiert sind.
Welche Organe kann man überhaupt spenden?
Am häufigsten und besten etabliert sind die Nieren, gefolgt von Leber, Herz, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm.
Kann man festlegen, dass meine Organe nur an bestimmte Menschen gehen sollen – etwa Kinder oder besonders Kranke mit besonders langer Wartezeit?
Das ist gesetzlich ausgeschlossen. Als Spender darf und kann man keinen Einfluss darauf haben.
Wer legt fest, wer meine Organe erhält?
Darum kümmert sich die Organisation „Eurotransplant“ in den Niederlanden, die das aufgrund eines festgelegten Algorithmus' entscheidet. Dabei spielen etwa die Blutgruppe und genetische Eigenarten eine Rolle, die wiederum wichtig sind, um eine Abstoßung des Organs zu verhindern. Als weiteres Kriterium kommt die Dringlichkeit dazu. Ein Computer berechnet anschließend: Dieses Organ beispielsweise eines Verstorbenen aus Rheine bekommt Frau Müller in Berlin – oder Herr Sebkovic in Zagreb, denn auch Kroatien gehört zu „Eurotransplant“.
Können die Hinterbliebenen erfahren, wer die Organe ihres Angehörigen erhält oder erhalten hat?
Nein, das bleibt anonym. Aber die Hinterbliebenen erhalten auf Wunsch einen Brief mit anonymisierten Informationen: Mann oder Frau, Alter, welches Organ.
Sind Organe ab einem bestimmten Alter nicht mehr für Spenden geeignet?
Nein. Ich habe tatsächlich schon Spenden von 90-Jährigen mitbekommen. Es ist zwar so, dass manche Organe dann nicht mehr geeignet sind. Aber wenn der Spender gesund war, können beispielsweise die Nieren eines 90-Jährigen einen 70-jährigen Nierenkranken gut zehn Jahre von der Dialyse befreien.
Können Angehörige über eine Organspende entscheiden, wenn der Verstorbene das zu Lebzeiten nicht geklärt hat?
Ja, das ist möglich. Wenn der Patientenwille weder durch einen Organspende-Ausweis noch durch mündliche Äußerungen bekannt ist, dürfen die nächsten Angehörigen aufgrund ihrer eigenen Wertvorstellungen entscheiden. Das entspricht der erweiterten Zustimmungslösung, auch Entscheidungslösung genannt.
Können Angehörige über eine Organspende anders entscheiden als der Verstorbene es zu Lebzeiten festgelegt hat?
Formell nicht. In der Praxis allerdings wird eine Spende nicht mit Biegen und Brechen durchgesetzt, wenn sich Angehörige vehement gegen eine Organspende aussprechen.
Was, wenn sich Angehörige nicht einig sind?
Dann hat man ein ernsthaftes Problem. Darum appelliere ich eindringlich, zu Lebzeiten allen nahe stehenden Angehörigen den eigenen Wunsch mitzuteilen. Wird das nicht von allen akzeptiert, wird eine schriftliche Fixierung umso wichtiger. Andernfalls gibt es eine Abstufung der Kompetenz etwa vom Ehepartner bis zum Cousin.
Kann ich bestimmen, wer nach meinem Tod über eine Organspende entscheiden soll?
Das wäre möglich, ja. Zum Beispiel in einer Patientenverfügung.
Kann ich meinen Willen über eine Organspende ausschließlich in einem Organspendeausweis kundtun oder geht das auch in einer Patientenverfügung oder formlos?
Letztlich genügt das gesprochene Wort, wenn die Angehörigen sich klar daran erinnern. Aber natürlich sind schriftliche Äußerungen über den Organspendeausweis oder die Patientenverfügung am besten.
Würde denn Angehörigen geglaubt, wenn es nur eine mündliche Äußerung gab?
Natürlich! Wenn der Arzt im Gespräch mit den Angehörigen Zweifel bekommt, sieht die Sache natürlich anders aus.
Wie schnell müssen Angehörige nach dem Tod eines Menschen entscheiden?
Je schneller, desto besser. Imn Rahmen einiger Stunden ist eine Bedenkzeit immer möglich. Alles, was darüber hinausgeht, macht eine Transplantation schwieriger. Auch darüber muss man die Angehörigen informieren.
Hat eine Organentnahme irgendwelche Konsequenzen für die Beisetzung eines Menschen?
Wie nach einer normalen Operation wird der Körper mit einer Naht verschlossen. Manche Angehörige wollen den Leichnam noch einmal sehen und sich verabschieden. Das ist selbstverständlich möglich, dafür gibt es in vielen Krankenhäusern entsprechende Verabschiedungsräume.