Themenwoche „Wo Weihnachten anders ist“ (4)

Weihnachten fernab der Heimat: Ukrainerin findet Halt im Klavierspielen

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Sie konnte nicht viel mitnehmen, als sie im Frühjahr 2021 vor dem Krieg aus Odessa floh. Auch ihr geliebtes Klavier musste sie zurücklassen. Das Instrument ist trotzdem eine Konstante für Yevheniia Mientaleuska geblieben.

Als sie den letzten Akkord des Walzers gespielt hat, reißt sie ihre Hände in die Luft und jauchzt einmal laut. In diesem Augenblick zeigt Yevheniia Mientaleuska all ihre Lebensfreude. Die Ukrainerin sitzt in ihrer kleinen Wohnung in Münster-Gievenbeck an ihrem E-Piano. Dort, auf dem Stuhl vor den Tasten, ist kein Platz für die Schwere ihres Schicksals. Dort lässt sie das Geschehen in ihrer Heimat hinter sich. Vor fast zwei Jahren floh die 82-Jährige aus Odessa nach Münster.

Das Klavierspielen spielt eine zentrale Rolle auf diesem Weg. Es ist wie eine Konstante, die sie aus ihrem alten Leben in das aktuelle hinübergerettet hat. Sie ist Klavierlehrerin, hat bis zu ihrer Flucht in einer Jugendbildungseinrichtung gearbeitet. „Singen, komponieren, den Jugendlichen das Spielen beigebringen…“ Das Instrument war das Leben für die Alleinstehende. Jetzt ist sowohl das Klavier in der Einrichtung als auch das in ihrer Wohnung in Odessa verwaist.

Energischer Dank an Helfende in Münster

Mientaleuska ist klein, drahtig und spricht energisch – oft auch mit ihren Händen. Wenn die Übersetzerin vom Münsteraner Netzwerk Ukraine in Not das in Worte fasst, wird es der Lebhaftigkeit ihrer Worte kaum gerecht. Gerade wenn Mientaleuska von der Hilfe erzählt, die sie in den vergangenen Jahren erlebt hat, wird das deutlich. „Sie dankt allen, die sich für sie eingesetzt haben“, sagt die Dolmetscherin sachlich, während die alte Dame vom Stuhl aufsteht und emotional gestikulierend von dieser Zeit spricht.

„Ich wüsste nicht, was ich ohne die vielen lieben Menschen hier gemacht hätte“, sagt Mientaleuska. Sie meint die Familie, die sie kurz nach ihrer Ankunft im Frühjahr 2021 für ein Jahr bei sich aufnahm. Sie meint die Caritas in Münster, die ihr half, danach eine eigene Wohnung zu finden. Sie meint ihre Übersetzerin vom Netzwerk, die ihr nicht nur bei der Verständigung hilft, sondern auch bei bürokratischen Dingen, Einkaufen, Arztbesuchen und anderen Alltagsherausforderungen. Und sie meint noch viele mehr. „Immer wieder waren da Menschen, die sich um mich gekümmert haben.“

Großes Glück in Deutschland

Wenn sie jetzt ihre Freundinnen in Odessa anruft, sagen die ihr oft, „dass ich riesiges Glück habe“. Bei diesen Worten lacht sie. Sie, die die Heimat verlassen musste. Die ihre geliebte Arbeit hinter sich lassen musste. Die ihren Bekannten Lebewohl sagen musste. Sie überlegt kurz und lacht dann wieder. „Ja, ich habe hier wirklich großes Glück gefunden.“

Zur Flucht gab es keine Alternative, sagt Mientaleuska. „Ich war alleinstehend, hatte niemanden, der sich um mich kümmern konnte.“ Freunde waren in den ersten Kriegstagen viel zu sehr mit ihren eigenen Situationen beschäftigt, als dass sie ihr hätten helfen können. „Wie sollte ich schnell in den Luftschutzkeller kommen, wenn die Sirenen heulten?“ Wenige Tage nach Kriegsbeginn floh sie mit dem Bus über Polen nach Münster.

Klavierspielen gehört zum Leben dazu

Dass sie nach Deutschland kommen würde, war von Beginn an klar. „Ich nahm einen Hund mit, den eine flüchtende Familie hinter sich hatte lassen müssen.“ Den brachte sie zum Wiedersehen nach Bielefeld, bevor der Weg nach Münster weiterging. Dort fand sie auf ihren Stationen schnell wieder ihre Konstante wieder: das Klavier. Sowohl in der Familie als auch bei deren Freunden standen Instrumente.

„Wenn ich irgendwo ein Piano sehe, setze ich mich daran und spiele.“ Das klingt wie ihr Lebensmotto. Mit dem sie auch etwas zurückgeben möchte, was sie in Deutschland erlebt. Sie spielt Konzerte – in Altenpflegeheimen, Krankenhäusern und Kirchen. „Wenn ich erlebe, wie ich die Menschen mit meiner Musik berühre, tut das gut.“ Als sie selbst für ein paar Tage im Krankenhaus lag, war das nicht anders. „Der Musiktherapeut hörte von meinem Beruf.“ Wenig später musizierten sie gemeinsam. „Er mit der Gitarre, ich am Krankenhaus-Klavier.“

Sie feiert kein Weihnachten

Auch das tat gut – ihr und den anderen Patienten. „Musik ist Gefühl, ist Freude“, sagt Mientaleuska. Das gilt vor allem für die Weihnachtszeit, die sie zum zweiten Mal fernab ihrer Heimat erlebt. Einem Ort, an dem sie gern einmal wieder zurückmöchte. „Dort steht mein Klavier, dort sind die jungen Menschen, die ich für das Musizieren begeistern möchte, dort sind alle Erinnerungen an mein Leben.“ Sie wird das christliche Fest nicht bewusst feiern, das sie in langen Sowjetzeiten nie als bedeutsam wahrgenommen hat. Wohl aber spürt sie die Besinnlichkeit und Emotionalität, die sich in diesen Tagen um sie herum ausbreiten.

Sie hat einen Ort, an dem sie all das vergessen wird, wenn es um sie herum still und festlich wird: Der Stuhl in ihrem Wohnraum vor dem E-Piano, das ihr geschenkt wurde. Es werden keine Weihnachtslieder sein, sagt Mientaleuska. „Ich spiele dann alles querbeet, vom Walzer bis zum Schlager.“ Die Freude des Festes wird trotzdem mithallen. Denn auch dann wird sie wieder lachen, klatschen und jubilieren.

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