Themenwoche "Seniorenheime unter Kostendruck" (3): Aus der Pflege-Praxis

Zu wenig Zeit und Leute: „Die Tischdecke in der Pflege ist zu kurz“

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Sabine Grohnert arbeitet seit 17 Jahren in der Altenpflege in Haus Maria Rast in Telgte. Sie spürt, dass es immer schwieriger wird, die eingeforderten Pflege-Leistungen zu erfüllen und zudem Zeit für die persönliche Betreuung der Bewohner zu haben.

Eine Tischdecke – Sabine Grohnert kommt immer wieder auf dieses Bild zurück. Jene Decke, die an der einen Seite den Tisch nicht mehr bedecken kann, weil an der anderen Seite an ihr gezogen wird. Als Leiterin eines Wohnbereichs im Caritas-Seniorenpflegeheim in Telgte spürt sie dieses Phänomen täglich, wenn es um die Versorgung der alten Menschen geht. „Die personelle Decke reicht im normalen Alltag dafür kaum aus“, sagt sie. „Wenn dann außerplanmäßige Ereignisse hinzukommen, reicht sie hinten und vorne nicht mehr.“

Es sind zwei Dinge, die sie dafür verantwortlich macht. Zum einen spürt auch sie den allgemeinen Personalmangel in der Pflege. Zum anderen ändert sich die Klientel fortwährend, sagt sie. „Die Menschen werden immer älter, kommen immer später zu uns, haben immer mehr Krankheiten.“ Der Anteil der Bewohner mit Demenz hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Was den Aufwand in der Pflege enorm steigert. „Die gerontopsychiatrischen Herausforderungen steigen stetig.“

Die Klientel braucht immer mehr Zuwendung

Grohnert weiß das, weil sie lange im Geschäft ist. Die 57-Jährige ist ausgebildete Krankenschwester und nach ihrer Familienpause vor 17 Jahren in die Altenpflege in Haus Maria Rast gewechselt. Früher haben dort viele Bewohner noch mit Pflegestufe 1 gelebt, sagt sie. „Da konnten sie sich noch selbst beschäftigen, sich gegenseitig unterstützen, haben uns zum Teil kleine Arbeiten abnehmen können.“ Heute sieht das anders aus. „Die Mehrzahl hat neben der Pflege einen großen Betreuungsbedarf.“

Da liegt für sie persönlich das Kernproblem. „Das einfache Dasein für die Bewohner, das Gespräch, das Zuhören oder die gemeinsame Beschäftigung kommen zu kurz.“

Die Zeit reicht nur, wenn alles glatt läuft

Wenn die Pflegeleistung eng getaktet ist, fallen Dinge, die darin nicht eingefordert werden, als erstes weg. Oder, wie Grohnert das mit ihrem Bild sagt: „Dafür ist dann die Tischdecke zu kurz.“

23 Minuten hat sie für die Grundpflege eines Bewohners: Waschen, Rasieren, Ankleiden, Mundpflege. „Das hört sich vielleicht viel an – klappt aber nur, wenn alles so läuft wie geplant“, sagt Grohnert. „In Pflegestufe 3 läuft aber eigentlich nie etwas wie geplant.“

Ein unflexibles System

Sie möchte nach ihren Schichten aber mit dem Gefühl Feierabend machen, dass es den Menschen, für die sie Sorge trägt, gut geht. Und dazu gehört für Grohnert mehr als nur die Basis-Versorgung, die vorgeschrieben ist.

„Das System ist allerdings nicht flexibel genug, mehr zu ermöglichen.“ Auch weil bestimmte unumgängliche Leistungen in ihren Augen von vornherein gar nicht eingerechnet werden. „Die vielen Arzt- und Angehörigengespräche etwa tauchen im Versorgungsplan gar nicht auf.“

Frisur richten oder Zeit für ein Gespräch haben?

Sie selbst muss deshalb viel Flexibilität mit in den Berufsalltag bringen. „Ich muss manchmal einfach selbst entscheiden, ob ein gutes Gespräch mit dem Bewohner jetzt wichtiger ist oder die gutsitzende Frisur.“

Grohnert weiß, dass es für die alte Dame oft viel bereichernder sein kann, in den Rollstuhl gesetzt und ans Fenster gefahren zu werden, als die Zeit damit zu verbringen, ihre Haare zu kämmen. „Das muss ich dann aber auch den Angehörigen erklären können, die erstmal nur die fehlende Pflegeleistung der ordentlichen Frisur wahrnehmen.“

Sehnsucht nach einer Auszeit

Bei allem Bemühen aller Kräfte in Haus Maria Rast für eine menschennahe Pflege und Betreuung: Am Ende bleibt die Zeit die harte Währung auf den Stationen. Das zeigt sich auch auf den Dienstplänen. „Die sind ständig im Fluss“, sagt Grohner. „Am Anfang des Monats trage ich alles so ein, dass es passt – und ab da wird hin- und hergeschoben.“

Neun volle Stellen gibt es auf ihrer Station für die 25 Bewohner dort. „Vier mehr bräuchte ich.“ Denn Krankheiten, Ausgleich, Vertretungen und Sonderaufgaben bringen viel durcheinander. „Ich selbst stehe gerade bei 100 Überstunden und sehne mich nach einer Auszeit.“ Damit würde sie die „Tischdecke“ aber wieder an ganzes Stück vom Tisch ziehen.

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