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Sein Lebensweg war geprägt durch Gewalt und Vertreibung. Bis „Jakob“ nach Beelen im Kreis Warendorf kam. Dort lernte der Ghanaer eine Clique Jugendlicher kennen, die sich seiner annahmen.
Keiner weiß, wie sein Lebensweg verlaufen wäre, wenn es diesen Moment nicht gegeben hätte. Jenem im Mai 2015 auf dem Bolzplatz bei der Skaterbahn in Beelen. Es war ein Augenblick, in dem zwei Welten aufeinandertrafen. Hier der Flüchtling aus Ghana, der erst kurz zuvor aus einer Übergangseinrichtung in Dortmund in eine Sammelunterkunft des Ortes im Westen des Münsterlands gezogen war. Da die Clique Jugendlicher, die sich regelmäßig dort zum Kicken traf.
„In meinem Wohnheim fiel mir die Decke auf den Kopf“, sagt Yakubu Ibrahim. „Deswegen bin ich oft spazieren gegangen, kreuz und quer durch Beelen.“ Und an jenem Tag eben zur Skaterbahn, wo er den spielenden Jugendlichen zuschaute. „Hey, was geht ab?“, fragte ihn irgendwann einer von ihnen. Das war David Sander, dem die Neugier des afrikanischen jungen Mannes aufgefallen war. Von da an gehörte Ibrahim irgendwie zur Clique. Er wurde von den deutschen Jugendlichen nur noch „Jakob“ genannt. Man traf sich häufiger. Er spielte mit Fußball.
Tragischer Lebensweg
Die Beelener lernten dabei einen jungen Mann mit tragischem Lebensweg kennen. Sein Vater war ermordet worden, als „Jakob“ acht Jahre alt war. Ohne Familie schlug er sich durch bis nach Libyen, wo er bis zum dortigen Bürgerkrieg lebte. Dann die Flucht über das Mittelmeer, einige Jahre in Italien, um sich dann auf eigene Faust bis nach Deutschland durchzuschlagen. Hier erhielt er den Status eines Geduldeten – jederzeit von der Abschiebung bedroht.
„Das volle Programm“, nennt Sander das. „Als Jakob nach Europa kam, hatte er nix als ein paar aufgeweichte Dokumente in der Tasche.“ Keine Schulbildung, keine Verwandtschaft, keine sozialen Kontakte. Das änderte sich in Beelen schnell. Die Clique setzte einiges in Bewegung. Seine neuen Freunde halfen ihm bei der Bürokratie, besorgten ihm Jobs, organisierten Deutsch-Unterricht. Und sie gaben ihm irgendwann einen Geburtstag. „Er hatte ja kein Datum mitgebracht – wir haben also einfach eins festgelegt.“ Jetzt wird jedes Jahr am 8. November gefeiert.
Mit Hut und Holzgewehr zur Vogelstange
„Jakob“ nannten ihn bald auch viele andere Beelener. Das lag an seinem umtriebigen und fleißigen Wesen. Er arbeitete lange Zeit in einem Ein-Euro-Job auf dem Wertstoffhof – da kannte ihn bald jeder. In der Freizeit war er nicht weniger aktiv. Bald spielte er Fußball im Verein, trat dem Tischtennis-Club bei und wurde Mitglied der Schützenbruderschaft. „Er ist wie wir alle ein Hut-Träger“, sagt Sander. „Mit Holzgewehr.“ Wenn er so mit seinen Freunden zur Vogelstange marschiert, ist seine Bekanntheit hörbar. „Er wird von allen am Straßenrand begrüßt.“
Die Clique blieb am Ball. Gerade der Status seiner Duldung bedeutete immer wieder viel Arbeit – rechtliche Beratung, medizinische Betreuung, bürokratische Hürden. „Wir mussten ihn da an die Hand nehmen wie einen kleinen Jungen“, sagt Sander. „Ohne die Sprache und den Überblick über die deutschen Strukturen hatte er keine Chance.“
Ghanaer in der Feuerwehr aktiv
Die Clique eröffnete ihm viele weitere Chancen. Auch die Ausbildung in einem holzverarbeitenden Betrieb, in dem er jetzt fest angestellt ist. Das lag auf der einen Seite an den vielen Kontakten der jungen Männer. Auf der anderen Seite an seiner wachsenden Popularität in Beelen. „Er ist einfach bekannt wie ein bunter Hund“, sagt Sander. „Ich staune oft, wenn er mir erzählt, welche Leute er mittlerweile alle kennt.“
Natürlich auch die von der Freiwilligen Feuerwehr. Vor etwa zwei Jahren absolvierte er dort die Grundausbildung und ist danach ungezählte Einsätze mitgefahren. „Das bedeutet mir besonders viel“, sagt der Ghanaer. „Weil ich etwas von der Hilfe zurückgeben kann, die ich hier in Beelen erlebe.“ Das tut er an vielen anderen Stellen auch. Gerade in der Clique können alle immer mit seiner Unterstützung rechnen. Bei Renovierungen, Autoreparaturen oder in der Landwirtschaft. „Hühner fangen“, sagt er lachend, „ist dabei das Lustigste.“
Karneval und Kicken
Er ist „einer von uns“ geworden, sagen alle. Das liegt an den großen organisatorischen Hürden, die sie gemeinsam genommen haben – etwa der erfolgreichen Wohnungssuche für „Jacob“ oder seiner weiterhin bestehenden Duldung. Entscheidend sind aber auch die vielen kleinen Dingen, die ihn zu „einem von uns“ machten: Der gemeinsame Discobesuch am Wochenende, die Feier beim Karnevals-Umzug im benachbarten Harsewinkel oder einfach nur das Kicken auf dem Bolzplatz, wo alles anfing.