Schwester Katharina Kluitmann im Interview

Emotionaler Missbrauch: Geistliche Gemeinschaften gefährdet

Geistliche Gemeinschaften sind anfällig für einen emotionalen Missbrauch ihrer Mitglieder, sagt Schwester Katharina Kluitmann vom Beratungsdienst für psychologische Begleitung von Menschen im Dienst der Kirche in Münster.

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Schwester Katharina Kluitmann sieht die geistlichen Gemeinschaften in Gefahr, ihre Mitglieder emotional zu überfordern. Es gebe dort Mechanismen, die dazu führen könnten, dass „die Stimme des geistlichen Begleiters mit der Stimme Gottes verwechselt wird“. Die Franziskanerin, die im Beratungsdienst für psychologische Begleitung von Menschen im Dienst der Kirche in Münster arbeitet, forderte die geistlichen Gemeinschaften auf, sich diesem Thema zu stellen.

Kirche+Leben: Geistlicher Missbrauch – was ist das?

Schwester Katharina Kluitmann: Eine klare Definition, auf die sich alle einigen können, gibt es noch nicht. Auch weil das Thema noch relativ neu im Fokus steht. Für mich ist es ein Sammelbegriff für verschiedene Formen emotionalen Missbrauchs und Machtmissbrauchs im Kontext geistlichen, religiösen Lebens. Sowohl im Bereich einzelner geistlicher Begleitung als auch im Bereich von Gemeinschaften. Es geht um die Überschreitung einer Grenze in die Intimsphäre eines Menschen. Ich erwarte in einer geistlichen Begleitung durchaus, dass der andere mich beeinflusst. Nicht aber an meiner Freiheit vorbei. Dann geschieht eine Verwechslung der Stimme des Begleiters mit der Stimme Gottes. Diese Verwechslung kann seitens des Begleiters entstehen, aber auch auf der Seite des Begleiteten. Wenn es auf beiden Seiten geschieht, wird es besonders gefährlich.

Warum ist es ein aktuelles Thema?

Es ist ein uraltes Thema. Immer wieder wurde in der Geschichte die Frage gestellt, wie ein Mensch in einer geistlichen Begleitung missbraucht werden kann. Im Fokus standen dabei in erster Linie Situationen, in denen sich die Akteure ein zu eins gegenüberstanden. Ich nehme an, dass das Thema sexueller Missbrauch viel in den Köpfen bewegt hat, so dass man vergleichbare Strukturen der Grenzverletzung jetzt leichter entdeckt. Man hat damit ein Wort, einen Sammelbegriff für die unterschiedliche Formen des Missbrauchs.

Warum beschäftigen sich derzeit die geistlichen Gemeinschaften damit?

Es gibt dort Mechanismen, die verstärkend wirken. Wenn ich zu einem geistlichen Begleiter gehe und das Gefühl habe, dass er mich manipuliert, dann gehe ich da leichter nicht mehr hin. In einer Gemeinschaft, in der alle Lebensbereiche abgedeckt werden, ist die Gefahr relativ groß, dass man in etwas hineinrutscht, was man totale Institution nennt. Dort gibt es keine Gewaltenteilung. Ich kann mich nicht anderen Instanz zuwenden als der geistlichen Leitung. Die Gefahr des Missbrauchs ist in so einem Kreis erhöht, weil der Druck und die Sozialkontrolle intensiver sind. Erfahrungsgemäß ist die Gefahr größer, je jünger die Gemeinschaft ist.

Aus welchem Grund?

Schwester Katharina Kluitmann
Schwester Katharina Kluitmann arbeitet im Beratungsdienst für psychologische Begleitung von Menschen im Dienst der Kirche in Münster. | Foto: Michael Bönte

Weil sie in ihrer jungen Entwicklung anfälliger ist. Man muss verstehen, dass es ein Stück zur Entwicklung einer geistlichen Gemeinschaft gehört. Wenn ich etwas neu anfange, dann bin ich richtig idealistisch. Wenn ich als junger Mensch frisch meine Berufung gefunden habe, bin ich in einer enthusiastischen Aufbruchsstimmung. Wenn ich das in einen Kontext tue, wo mir ein weiser Begleiter hilft, kann das gut gehen. Wenn ich aber einer Person folge, die ähnlich enthusiastisch ist, kommt es zu einer Überbewertung des Ideals zu Ungunsten der Realität. Das Ganze geschieht im Kontext einer Gemeinschaft, die ebenso von ihrer Idee begeistert ist. Man schaukelt sich quasi gegenseitig hoch. Es fehlt der Impuls des gesunden Menschenverstands: So jetzt ist gut, komm mal wieder runter.

Wohin kann diese Dynamik führen?

Der Betroffene verliert zunehmend das Gefühl, sich selbst trauen zu können. Weil ihm das systematisch ausgetrieben wird. Das geschieht nicht immer bewusst, aber es geschieht. Es wird von einer Perfektion ausgegangen, die nicht zu erreichen ist: Die Zahl der Gebete muss immer weiter erhöht werden – je früher man aufsteht, desto besser...  Wenn man Probleme anspricht, wird man selbst zum Problem gemacht. Die Gruppe muss zusammenstehen. Weil sie höhere Ziele hat als der Rest der Welt. Es wird damit ganz schwierig, dort heraus zu kommen.

Sind das nicht die klassischen Vorwürfe gegenüber einer Sekte?

Die Logik ist die gleiche, auch wenn es umstritten ist, das in diesem Bereich zu vergleichen. Es gibt aber Kriterien, die sich stark ähneln. Ich finde einiges davon aber auch in der Gründungsgeschichte vieler Ordensgemeinschaften. Der Ursprungsimpuls war nicht böse. Aber es gab auch damals kaum Möglichkeit der Korrektur von außen, weil alle Akteure miteinander verwoben waren. Es fehlten Offenheit und Freiheit. Man blickte nur nach innen. Auch damals war es schwierig, Menschen, die dazu stießen, in ihrer Vielfalt zu akzeptieren.

Gibt es geistliche Gemeinschaften, die diesen Mechanismus böswillig nutzen?

Geistlichen Gemeinschaft unterscheiden sich stark. Natürlich gibt es unter ihnen Gruppen, die solche Dinge absichtlich einsetzen. Die werde ich mit meinem Worten kaum erreichen, eher Widerstand erzeugen. Aber grundsätzlich ist das Anliegen der Gemeinschaften gut. Sie nutzen den Mechanismus nicht bewusst oder gar strategisch. Auch wenn er zu ihrem Gewinn funktioniert. Es gibt andere, für dies definitiv kein Thema ist, weil sie so locker gestrickt sind, dass sie nicht annähernd in den Verdacht geistlichen Missbrauchs kommen. Oder sie sind schon so alt, dass sie längst nicht mehr so emotional und enthusiastisch aufgeladen sind. Meinen Vortrag halte ich für die, die in ihrer derzeitigen Entwicklung entdecken: Mensch, da müssen wir aufpassen!

Und wie können sie aufpassen?

Sie müssen lernen, ab wann eine Institution ein totale Institution ist. Also ab wann überwacht die Gemeinschaft jeden Lebensbereich eines Menschen so, dass ihm die Freiheit genommen wird, sein Leben auch selbst zu gestalten. Und der Blick auf die Leitung der Gemeinschaft muss sich schärfen. Diese muss auch Menschen akzeptieren, die nicht ihrem Ideal entsprechen. Sie sollte dafür theologisch und spirituell ausreichend ausgebildet sein. Ein Minimum an psychologischer Menschenkenntnis sollte vorhanden sein. Sie sollte wissen, was sie in ihrer Position anrichten kann und verantwortungsvoll handeln. Eigene Ängste oder einen häufig anzutreffenden Narzissmus muss sie im Griff haben. Eine Leitung darf sich nicht zu einem Guru entwickeln, sondern wissen, dass sie nicht alles selbst machen, sondern auf Gott vertrauen kann.

Was kann der Betroffene tun, um aus einer Situation des geistlichen Missbrauchs in einer Gemeinschaft heraus zu kommen?

Er muss diese Situation wahrnehmen. Das Üble ist, dass gerade diese Wahrnehmung geschädigt ist. Sie funktioniert nur mit Distanz. Deshalb muss er sich jemanden außerhalb der Gemeinschaft suchen. Wenn die Gemeinschaft das verbietet, ist das ein lautes Warnsignal. Oft fällt das Verbot aber auf den fruchtbaren Boden eines geschwundenen Selbstvertrauens des Betroffenen. Wenn durch Gespräche innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft nichts zu bewegen ist, muss ich mich in Sicherheit bringen.

Woran erkennt eine Außenstehender, dass die Situation in einer geistlichen Gemeinschaft nicht in Ordnung ist?

Allgemeine Kriterien sind da schwierig zu formulieren, da geistlicher Missbrauch immer auch von der Geschichte des Einzelnen abhängig ist. Wenn ich aber wahrnehme, dass er in einer Gemeinschaft lebt, in der ihm völlig die Freiheit genommen wird, von außen Luft an die eigene Situation zu lassen, dann ist das ein deutlicher Hinweis. Wenn es ihm nicht gestattet ist, Fortbildungen außerhalb der Gemeinschaft zu besuchen oder wenn er seine Bücher nicht frei wählen darf, sind Grenzen überschritten. Ein Indikator ist auch, wenn seine Kontakte zu Freunden und Verwandten kritisch beäugt werden. Die müssen nicht immer durch offene Verbote untersagt werden, sondern können auch subtil unterbunden werden, etwa durch Arbeitsüberlastung, ausufernden Gebetszeiten oder Schlafentzug.

Was kann Kirche machen, um falsche Entwicklungen zu stoppen?

Erste Aufgabe der kirchlichen Autorität ist es, die Kommunikation mit den Gemeinschaften zu suchen. Dabei muss sie genau schauen, wie dort damit umgegangen wird? Ist es möglich, mit den Akteuren zu diskutieren? Sind offene Wort erlaubt? Werden Vorschläge umgesetzt?  Ein guter Indikator für den Blick hinter die Kulissen ist zudem die Auseinandersetzung mit der Situation von Aussteigern: Wie geht man mit ihnen um? Und Kirche hat durchaus die Möglichkeit, jemanden zu beauftragen, der in der Gemeinschaft eine Zeit lang mitläuft, um die Situation dort zu verstehen.

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