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Die katholische Kirche in Deutschland streitet. Mehrheitlich für Erneuerung. Eine Minderheit verweist auf römische Stoppschilder. Derweil zerbröselt die Basis, Missbrauch bleibt Thema – und keine Entscheidung in Köln.
Wahlforscher würden von einem Erdrutsch sprechen. „Die Bedeutung der Kirchen bricht in sich zusammen“, schreibt die „Neue Zürcher Zeitung“. 2023 zeichnet sich erneut durch eine Lawine schlechter Nachrichten für die katholische Kirche in Deutschland aus.
56 Prozent der Deutschen sind mittlerweile „religiös unmusikalisch“, so die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung KMU, die die Evangelische Kirche erstmals zusammen mit der katholischen Bischofskonferenz herausgab. Selbst unter Kirchenmitgliedern verstehen sich nur noch vier (katholisch) beziehungsweise sechs Prozent (evangelisch) als „gläubig und kirchennah“. Nur neun Prozent aller Deutschen erklärten, sie hätten noch Vertrauen in die katholische Kirche – nur der Islam schloss schlechter ab. Bei der evangelischen Kirche waren es immerhin 24 Prozent.
Alarmierend auch die Austrittszahlen: Mit 522 821 Katholiken, die 2022 ihrer Kirche den Rücken kehrten, wurde der Rekordwert von 2021 nochmals deutlich überschritten.
“Gefühl der Ohnmacht”
„Der Trend der Entkirchlichung, der sich seit vielen Jahrzehnten schleichend vollzieht, hat massiv an Fahrt aufgenommen“, sagt der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Georg Bätzing. Die Kirche müsse neue Wege gehen, wolle sie überhaupt noch eine Rolle spielen.
Die Generalsekretärin der Bischofskonferenz, Beate Gilles, spricht von einem Gefühl der Ohnmacht: „Wir sind nicht mehr der Mega-Player, sondern der kleinere Teil in der Gesellschaft“, sagte sie. Viele kirchliche Strukturen müssten künftig zurückgefahren werden.
Der Religionssoziologe Detlef Pollack von der Uni Münster sieht nur geringe Handlungsmöglichkeiten. Jeder Versuch, das eigene Image aufzubessern, werde sofort als Form der Selbstrechtfertigung wahrgenommen, sagt er. Gute Seelsorge, karitatives Engagement, Jugendarbeit und Religionsunterricht mit Qualität erhöhten dennoch die Chancen, dass die Menschen neues Vertrauen entwickeln könnten.
Zollitschs Rechtsbrüche
Dem standen massive Negativ-Meldungen entgegen: Im September wurde bekannt, dass dem verstorbenen Essener Kardinal Franz Hengsbach sexueller Missbrauch in mehreren Fällen vorgeworfen wird.
Für Empörung sorgte auch die im April vorgestellte Missbrauchsstudie im Erzbistum Freiburg: Sie wirft dem langjährigen Erzbischof Robert Zollitsch vielfachen Rechtsbruch vor. Er habe es bewusst unterlassen, kirchliche Strafprozesse gegen Täter einzuleiten. Dabei habe er als damaliger Vorsitzender der Bischofskonferenz von ihm selbst auf den Weg gebrachte Vorgaben missachtet. Beschuldigte oder Überführte soll Zollitsch stillschweigend versetzt haben, sodass erneut Minderjährige zu Opfern wurden.
Als erster deutscher katholischer Bischof trat Franz-Josef Bode in Osnabrück am 25. März ausdrücklich auch wegen Fehlern bei der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt zurück.
Woelki und die Justiz
Weiter in der Schwebe ist der Fall Rainer Maria Woelki: Franziskus lässt das Rücktrittsangebot – das der Papst selbst eingefordert hatte – weiter unbeantwortet. Vereinzelte Stimmen halten das inzwischen für eine Art Entscheidung.
Derweil sorgte der Kardinal mit mehreren Prozessen für Schlagzeilen. Ende Juni durchsuchten Staatsanwaltschaft und Polizei sogar einige Objekte des Erzbistums.
Kölner Landgerichtsurteil
Hintergrund sind Ermittlungen gegen Woelki wegen Vorwürfen des Meineids und der falschen eidesstattlichen Versicherung. Der Kardinal fühlt sich durch die „Bild“-Zeitung wegen seines Umgangs mit Missbrauchsfällen falsch dargestellt. Gegen die aus seiner Sicht „ehrverletzende Falschberichterstattung“ ging er mit Einstweiligen Verfügungen vor, setzte sich mehrfach durch, musste aber auch einige Äußerungen der „Bild“-Zeitung hinnehmen.
Ein anderes Verfahren sorgte ebenfalls für Aufsehen. Das Landgericht Köln sprach im Juni einem früheren Messdiener, der in den 1970er Jahren von einem Priester mehr als 300 Mal missbraucht wurde, 300 000 Euro Schmerzensgeld zu und argumentierte, das Erzbistum trage eine besondere Amtshaftung. Mittlerweile sind ähnliche Klagen in anderen Bistümern auf dem Weg.
Synodale Stoppsignale
Ungeachtet vieler Stoppsignale aus Rom und einiger Querschüsse aus konservativen Kreisen brachte die Kirche in Deutschland den Synodalen Weg voran. Als Folge der Synodalversammlung vom März konstituierte sich im November der Synodale Ausschuss. Ihm gehören laut Satzung die 27 Ortsbischöfe, 27 Vertreter des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) und weitere 20 gewählte Mitglieder an.
Der Ausschuss soll den Boden bereiten, damit Beratungen über die Themen Macht, Rolle der Frau, Sexualmoral und priesterliche Lebensform weitergehen. Und er soll die Gründung eines dauerhaften Synodalen Rats vorbereiten.
Römischer “Kulturwandel”
Vier Bischöfe lehnen die Teilnahme bisher ab: Woelki, Gregor Maria Hanke (Eichstätt), Stefan Oster (Passau) und Rudolf Voderholzer (Regensburg). Der Vatikan hatte erklärt, die Kirche in Deutschland sei nicht befugt, ein gemeinsames Leitungsorgan von Laien und Klerikern einzurichten.
Die Befürworter des Synodalen Weges verspüren allerdings Rückenwind durch die vom Papst einberufene Weltsynode, deren erste von zwei Synodalversammlungen im Oktober in Rom tagte. ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp sprach vom „Beginn eines Kulturwandels“.
Zwei Neue
Im Dezember schließlich ernannte nach langer Wartezeit Franziskus zwei Erzbischöfe, die – mit Blick auf die bischöfliche Altersgrenze von 75 Jahren – gut 20 Jahre amtieren dürften: Udo Markus Bentz in Paderborn und Herwig Gössl in Bamberg. Während Bentz beim Synodalen Weg als Moderator fungierte, sieht Gössl einige Reformbeschlüsse kritisch, ohne allerdings Fundamental-Opposition zu erkennen zu geben.