Anzeige
Rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörer haben an einer Veranstaltung zum Thema Missbrauch im Vechtaer Antoniushaus teilgenommen. Dabei diskutierte der Vechtaer Offizial und Weihbischof Wilfried Theising unter anderem mit zwei Missbrauchsopfern aus dem Oldenburger Land. Zuvor hatte Professor Thomas Großbölting die Missbrauchsstudie für das Bistum Münster vorgestellt.
Der Pastor hat ihn dafür vom Spielplatz geholt. „Und danach hat er gesagt: Das darfst du niemandem erzählen! Sonst tritt der Satan zwischen uns.“ Bernd Theilmann hat lange über seine Erfahrungen als Missbrauchsopfer geschwiegen und sein Leid mit sich herumgetragen. Erst Jahre später, als eine Schule in seinem Heimatort Neuenkirchen im Kreis Vechta nach diesem Pfarrer benannt werden sollte, ging er damit an die Öffentlichkeit.
Als er am Ende seiner Schilderung anfügt, „und in kürzester Zeit ist der Name wieder zurückgenommen worden“, kommt Applaus auf im Saal des Antoniushauses in Vechta. Wo Bernd Theilmann bei einer Podiumsdiskussion seine Geschichte erzählt, die Geschichte eines Mannes, der mittlerweile in der Lage ist, über das Erlebte zu sprechen.
Großbölting stellt Ergebnisse der Missbrauchsstudie vor
Professor Thomas Größbölting stellte die Ergebnisse der Missbrauchsstudie für das Bistum Münster vor. | Foto: Johannes Hörnemann (BMO)
Und einer, der froh ist, dass mit der Missbrauchsstudie des Bistums Münster vieles endlich ans Tageslicht gekommen ist. Was damals wirklich passiert ist. Wer alles Bescheid wusste. Wie Verantwortliche der Kirche die Sache anfangs vertuschen wollte. Eine späte Genugtuung für jemanden, dem lange nicht geglaubt wurde.
„Macht und sexueller Missbrauch im Bistum Münster seit 1945“ lautete der Titel der Veranstaltung, bei der Professor Thomas Großbölting zunächst noch einmal wesentliche Ergebnisse seiner Studie für das Bistum Münster vorstellte – um danach mit Weihbischof Wilfried Theising sowie Bernd Theilmann und Hans Jürgen Hilling als Betroffenen aus dem Oldenburger Land der Frage nachzugehen: Was bedeuten die Ergebnisse für den Offizialatsbezirk – mit Blick auf die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft?
Schockierende „Rechtsferne“ der Bischöfe
„Es gab in den Gemeinden ein breites Wissen über Missbrauch“, bestätigt Hans Jürgen Hilling vor rund 100 Zuhörern eines der Studienergebnisse. „Das habe ich selbst auch in Friesoythe so erlebt.“ Der mittlerweile in Hamburg lebende Rechtsanwalt war 2018 erstmals mit seiner Leidensgeschichte an die Öffentlichkeit gegangen. Und er will auch diejenigen zur Rechenschaft gezogen sehen, die als Vertuscher Missbrauch mit ermöglicht haben.
Für ihn sei besonders die in der Studie dargelegte „Rechtsferne“ der Verantwortlichen von damals „schockierend“ gewesen, sagt Hilling. Konkret nennt er Bischof Reinhard Lettmann. „Lettmann war Kirchenrechtler. Aber er hat auf kanonische Vorschriften gepfiffen, wenn es um Missbrauchsfälle ging.“
Hilling fordert Tranparenz über Vechtaer Vertuscher
Hans Jürgen Hilling fordert eine angemessene finanzielle Entschädigung durch die Bistümer. | Foto: Johannes Hörnemann (BMO)
Für den Offizialatsbezirk wünsche er sich, dass auch die konkrete Verantwortlichkeit von ehemaligen Offizialen klar benannt und bekannter gemacht wird. „Das heißt zum Beispiel, dass die Vertuschungsmaßnahmen von Weihbischof von Twickel auch mal irgendwo vorkommen.“ Max Georg von Twickel war von 1970 bis 2001 Offizial in Vechta.
Die Bedeutung der Fehler im System zu erkennen – dabei hat die Studie nach Ansicht von Weihbischof Wilfried Theising Wichtiges geleistet. „Wir müssen zugeben und anerkennen, dass es auch etwas Systemisches ist, das Missbrauch begünstigt hat“, sagte der Vechtaer Offizial. Er bezog sich dabei etwa auf eine von Studienleiter Großbölting kritisierte jahrzehntelange „Selbstsakralisierung“ von Priestern sowie unprofessionelles Personalmanagement in reinen Klerikergruppen.
Theising sieht Synodalen Weg durch Missbrauchsstudie gestützt
„Es handelt sich zwar um Einzeltäter“, so Theising weiter, „aber sie konnten ihre Taten in einem gewissen System von Kirche begehen und sind anschließend nicht zur Rechenschaft gezogen worden.“ Manche hätten das vielleicht sogar mit einkalkuliert. Nach dem Motto: „Das hat eh keine Konsequenzen. Da passiert mir nichts.“ Der Weihbischof sieht daher mit der münsterschen Studie auch die Themen des Reformprojekts Synodaler Weg unterstützt: „Wenn wir in der Kirche systemisch nichts verändern, werden wir den Betroffenen nicht gerecht.“
Neben den bereits vollzogenen Veränderungen und intensiver Präventionsarbeit gehe es darum, das Geschehene weiter aufzuarbeiten, sagte Theising und ermutigte bisher noch unbekannte Opfer ausdrücklich, sich zu melden. Man habe zwar bereits viele Namen. „Aber wir müssen davon ausgehen, dass da vieles noch schlummert.“
Hilling fordert angemessene finanzielle Entschädigung
„Angemessene finanzielle Entschädigung“, fordert Hans Jürgen Hilling. Es sei wichtig, „dass die Bistümer endlich anerkennen, dass sie selbst Schadenersatz, also Schmerzensgeld und ökonomischen Ausgleich zu leisten haben. Das wäre für mich eine echte, überzeugende Konsequenz, die sich nicht in Worten erschöpft.“
Für Bernd Theilmann sind daneben vor allen Dingen Reden und Zuhören wichtig. So wie es die Veranstaltung in Vechta möglich gemacht habe. „Eine Diskussion wie heute war vor 40 Jahren nicht möglich. Heute sitzt der Weihbischof mit am Tisch. Das ist ein Anfang!“
Missbrauch um Offizialatsbezirk Oldenburg
Im niedersächsischen Teil des Bistums Münster hat es nach Erkenntnissen der Missbrauchsstudie für das Bistum Münster in den Jahren 1945 bis 2018 insgesamt 27 beschuldigte Geistliche gegeben. 93 Betroffene von sexualisierter Gewalt sind bekannt. Die Mehrheit der Übergriffe habe in den 1950er und 1960er Jahren stattgefunden. Im Oldenburger Land habe man es mit einer Reihe von Intensivtätern zu tun gehabt, so Studienleiter Professor Thomas Großbölting. Aufgrund seiner Recherchen geht das Forscherteam um Großbölting davon aus, dass es in der Leitung des Bischöflich Münsterschen Offizialats ab 1948 und bis in die 1970er Jahre hinein ein „hohes Wissen“ um Taten sexualisierter Gewalt durch Kleriker gegeben haben muss. Dass die meisten Meldungen von Betroffenen erst ab 2010 eingegangen seien, führte Großbölting darauf zurück, dass Betroffene erst nach dem öffentlichen Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe am Berliner Canisiuskolleg darauf hoffen konnten, dass ihren Schilderungen geglaubt werde. (miro)