Historiker-Kommission stellt sich in Münster Fragen der Öffentlichkeit

Gutachter vor Publikum: Sexueller Missbrauch ist Machtmissbrauch. Immer.

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Zusätzlich zur Pressekonferenz haben die Forschenden der Uni Münster ihre Ergebnisse auf einer öffentlichen Veranstaltung Interessierten vorgestellt. Mehrere hundert Menschen hörten in der Aula des Schlosses und per Internet zu – und nutzten auch die Gelegenheit zu Nachfragen.

„Mit dieser Studie hat die Relativierung des Missbrauchs ein Ende.“ Martin Schmitz, Betroffener von sexuellem Missbrauch durch einen Priester und Sprecher des Beirats der Forschenden der Universität Münster, die im Auftrag des Bistums tätig waren, traut sich eine Feststellung. Und verzichtet auf sprachliche Umwege wie „hoffe ich, dass“.

Ein klares Statement bei der Veranstaltung im Schloss in Müns­ter, die der interessierten allgemeinen Öffentlichkeit die Ergebnisse der Missbrauchsstudie präsentiert.

Schmitz: Studie nimmt Druck von Betroffenen

Schmitz formuliert kraftvoll weiter. Er lobt, dass die Studie nicht nur Verbrechen untersucht hat, „sondern sie auch so benennt“. Und er betont: „Die Anklage dieser Verbrechen erhebt nun eine wissenschaftliche Studie. Das ist ein großer Schritt für die Betroffenen – das nimmt ihnen Druck.“

„Besonderen Respekt und Dank“ möchte Schmitz daher an die Missbrauchs-Betroffenen richten. Sie hätten – etwa durch Gespräche mit den Forschenden der Universität Müns­­ter – einen „nicht unwesentlichen Beitrag“ zur Untersuchung geleistet. Dem Forschungsteam dankt er – und auch Bischof Felix Genn. Er habe „die Studie ermöglicht – durch freien Zugang zu den Akten und auch durch das Bereitstellen der finanziellen Mittel“.

Bischof Genn in der letzten Reihe

Genn hört diesen Dank; er sitzt mit weiteren Vertretern des Bistums – darunter Generalvikar Klaus Winterkamp, Weihbischof Wilfried Theising, dem Interventionsbeauftragten Peter Frings und seinem Mitarbeiter Stephan Baumers – ganz hinten. Auch Personalchef Karl Render nimmt in der Aula des Schlosses teil.

Die ist zu gut zwei Dritteln besetzt, was etwa 200 Zuhörenden entspricht. Weitere 500 Menschen folgen der Live-Übertragung der Veranstaltung im Internet, ergänzt Norbert Robers, Uni-Pressesprecher und Moderator des Abends.

"Kirche allein ist mit Aufarbeitung überfordert"

Nach dem Dank schaut Martin Schmitz nach vorn. Er unterstreicht, nicht nur die Prävention neuer Fälle sei wichtig, sondern auch die Aufarbeitung der bekannten Taten: „Ohne Aufarbeitung laufen Kinder Gefahr, weiter Opfer von sexuellem Missbrauch zu werden.“ Und für diese Aufarbeitung, ist der Beiratssprecher überzeugt, braucht es Hilfe von außen.

„Es ist sehr deutlich, dass die Kirche allein damit überfordert ist“, sagt er. Und wünscht sich deshalb, dass sie „auf ihren Machtanspruch und ihre Deutungshoheit“ verzichten und sich selbst „für eine staatliche Aufarbeitung einsetzen sollte“. Den letzten Satz richtet Schmitz direkt an Genn: „Herr Bischof, denken Sie doch einmal in diese Richtung weiter!“

„Das ist ja nicht zu fassen!“

Schmitz bekommt genauso Applaus wie das Team der Forschenden, nachdem es zuvor zentrale Ergebnisse der Studie vorgestellt hatte. Mehr als zwei Stunden dauern die Vorstellung und die anschließende Fragerunde. Die Wucht des Themas ist im Raum fast körperlich zu spüren. Niemand tuschelt, einem Zuhörer ist das eigene Husten sichtlich unangenehm.

Mitunter raunen Einzelne – etwa, als die Forschenden beschreiben, wie der frühere Generalvikar Laurenz Böggering (1904-1996) die Strafverfolgung eines Täter-Priesters vereitelte. Als geschildert wird, Reinhard Lettmann (1933-2013) habe als Generalvikar einen Täter nach Argentinien versetzt, zischt eine Frau tonlos: „Das ist ja nicht zu fassen!“

Bischöfe aus der Dom-Gruft entfernen?

Fragen kommen sowohl in der Uni-Aula auf wie im Internet. Ein Mann im Schloss fragt, wie frühere Bischöfe „das übersehen könnten“ – und wie diese an ihre Posten gekommen seien. Von „sehr mittelmäßigen Bischöfen“ spricht er, wirft ihnen vor, „ethisch blind“ zu sein.

Online fragt jemand, ob es nicht ein Zeichen sein könnte, die früheren Bischöfe Michael Keller (1896-1961), Heinrich Tenhumberg (1915-1979) und Lettmann aus der Bischofsgruft im Dom zu entfernen. „Die Diskussion muss geführt werden“, findet der Historiker Klaus Große Kracht und sieht das Bistum am Zug. Denn genauso wie es eine Zumutung sei, wenn Opfer ihrem Täter wiederbegegneten, könne es problematisch sein, wenn sie mit Verantwortungsträgern in einem Raum sind – und sei es die Grablege im Dom.

Rangliste des Schreckens unter Bistümern?

Eine Frau im Saal möchte wissen, ob die Akten vollständig gewesen seien. „Wir haben alle Akten einsehen können, die wir sehen wollten“, sagt Große Kracht. Allerdings habe es Lücken im Bestand gegeben – und einige Mappen seien an Stellen aufgetaucht, wo die Forschenden sie nicht unbedingt vermutet hatten.

Im Netz formuliert jemand die Frage, ob die Befunde in Münster schlimmer seien als in den Erzbistümern Köln und München. Große Kracht hält indes nichts von einer „Ranglis­te des Schreckens“. Zum einen seien die Studien methodisch nur schwer zu vergleichen. „Zum anderen geht es um einzelne Taten und um einzelne Schicksale der Betroffenen.“

Studien auch zu Laien und Ordensleuten als Tätern?

Fragen nach weiteren Studien kommen auf, etwa über Taten von Nicht-Klerikern, also Laien – und von Ordenschristen, auch Ordensfrauen: „Gewalt ist nicht nur männlich“, wirft jemand ein. Schwester Katharina Kluitmann, bis vor wenigen Wochen Vorsitzende der Deutschen Ordensobernkonferenz, hört in der Schloss-Aula zu.

Weitere Studien halten die Forschenden für sinnvoll. Thomas Großbölting verweist darauf, sein Team habe nur die Akten in Bistums-Beständen untersuchen können. Er mahnt die Kirche zugleich, die Logik ihrer internen Aufteilung – etwa die Unterscheidung zwischen Bistümern und Orden – dürfe nicht zu Lasten der Betroffenen gehen.

"Gibt es etwa sexuellen Ge-Brauch von Kindern?"

Karl Haucke, Betroffener aus dem Erzbis­tum Köln, fordert, Opfer müssten ein „Recht auf Aufarbeitung“ bekommen, auf Anhörung und Akteneinsicht. Großbölting sagt, er selbst habe sich bereits mit Unterlagen der Staatssicherheit der früheren DDR befasst. „Da gibt es dieses Recht.“ Er regt an, „Formen zu finden“,  damit dies auch an anderer Stelle möglich werde.

Haucke problematisiert zudem das Wort „Sexueller Missbrauch“ von Kindern in der Studie: „Das klingt, als ob es auch einen sexuellen Ge-Brauch gäbe.“ Klaus Große Kracht entgegnet, auch die Kriminalstatistik spreche von Missbrauch. Und er unterstreicht eine Grundeinsicht der Forschenden: „Sexueller Missbrauch ist Machtmissbrauch. Immer.“

Das gesamte Missbrauchs-Gutachten der Historiker-Kommission der Universität Münster ist hier zu finden.

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