Münsteraner Kirchenrechtler über das Missbrauchs-Gutachten für das Erzbistum Köln

Warum ist Kardinal Woelki nicht gänzlich entlastet, Herr Schüller?

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Das Missbrauchs-Gutachten des Strafrechtlers Björn Gercke hat heute den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki entlastet. Einer der schärfsten Kritiker des Erzbischofs war in den letzten Monaten der Münsteraner Kirchenrechts-Professor Thomas Schüller. Was jetzt von seinen Vorwürfen bleibt, wie er die Zukunft des Hamburger Erzbischof Stefan Heße sieht und wo in dem neuen Gutachten gelogen wird, sagt er im Interview mit "Kirche-und-Leben.de".

Herr Professor Schüller, Sie haben mehrfach den Rücktritt von Kardinal Woelki gefordert, weil er Missbrauch vertuscht und nicht nach Rom gemeldet habe. Jetzt sagt das Gutachten: Ihm kann nichts vorgeworfen werden. Waren Sie zu voreilig?

Ich war mutig, weil mir nach der Recherche zum Fall des Priesters O. klar war, dass er diesen Fall hätte nach Rom melden müssen. Dabei bleibe ich auch. Die Darstellung des Falles im Gercke-Gutachten ist eine politische Auslegung, wenn es sagt, wegen der schweren Erkrankung des Priesters hätte der Kardinal den Fall nicht nach Rom melden müssen. Alle Kirchenrechtler sind sich einig: Woelki hätte es melden müssen.

Was bleibt von Ihren Rücktrittsforderungen?

Da bin ich inzwischen etwas skeptischer, auch mit mir selbst. Skandalös finde ich allerdings, dass der Kardinal heute wiederum kein Wort, keine Entschuldigung darüber verloren hat, dass er den Betroffenenbeirat instrumentalisiert hat, als er im September entschied, das erste Gutachten nicht zu veröffentlichen. Meines Erachtens muss Kardinal Woelki sich daher fragen, ob er für das Amt des Erzbischofs von Köln geeignet ist.

Der Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp ist seit heute vorerst entpflichtet, hat seinen Rücktritt angeboten. Was wird aus Erzbischof Stefan Heße in Hamburg, dem elf Pflichtverletzungen vorgeworfen werden und der auch seinen Rücktritt anbietet?

Das ist jetzt eine ganz schwierige Frage. Man hat ihm nachweisen können, dass er als Personalchef, Generalvikar und Diözesanadministrator Pflichtwidrigkeiten begangen hat. Erzbischof Heße hat ja bereits vor einigen Wochen sein Schicksal in die Hände des Papstes gelegt, er kann schließlich nicht Richter über sich selbst sein. Zwar hat Heße diese Pflichtwidrigkeiten nicht als Erzbischof begangen, und meines Wissens hat er seit seiner Ernennung zum Erzbischof von Hamburg 2015 im Umgang mit sexuellem Missbrauch keinen Fehler gemacht. Dennoch: Die Vorwürfe im Gutachten sind derart gravierend, dass er wohl nicht im Amt wird bleiben können.

Ist Kardinal Woelki denn vollständig entlastet?

Das wird man so sehen müssen. Er hat nicht selbst missbraucht, er hat nicht aktiv vertuscht wie seine Vorgänger Meisner und Höffner. Aber er ist nicht raus bei der Frage nach den systemischen Ursachen. Er hat ja das Münchner Gutachten unter anderem deshalb nicht veröffentlicht, weil ihm dessen Empfehlungen zu einer veränderten Sexualmoral und einer anderen Priesterausbildung nicht passten. Da bleibt er bei seinen stockkonservativen Positionen. Jetzt hat er ein rein abstraktes juristisches Gutachten, das diese Themen gar nicht aufgreift. Der Auftrag war allerdings ein anderer, es sollte nämlich vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der Kirche geprüft werden. Bei dieser moralisch-ethischen Dimension hat der Kardinal noch Hausaufgaben zu erledigen.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse des neue Gutachtens?

Zum Ersten hat es endgültig, juristisch genau und auch in der Einzelfalldarstellung sehr präzise ein Vertuschungs-System der beiden Vorgänger-Kardinäle und ihrer Generalvikare bewiesen. Zum Zweiten begrüße ich die Empfehlung, die Interventionsstelle weiter auszubauen und die Nachsorge der Betroffenen weiter im Auge zu behalten, sie zu begleiten, soweit sie das wollen. Denn die Traumatisierung bleibt vielen bis zum Lebensende.

Was kritisieren Sie an dem Gercke-Gutachten?

Noch einmal: Es ist in weiten Teilen handwerklich, kirchenrechtlich und staatsrechtlich wirklich gut, auch in der Darstellung der einzelnen Fälle. Bei der Analyse der Ursachen aber sendet das Gutachten Doppelbotschaften aus: Da ist die Rede davon, dass die Verantwortlichen die Rechtslage nicht gekannt hätten und überfordert gewesen seien mit ihrem Beruf und ihrer Verantwortung. Und, dass es eine unkoordinierte Zuständigkeitsregel gegeben hätte. Das sind vorgeschobene Argumente, die aber geeignet sind – und so wirkte es auch während der Präsentation des Gutachtens -, die Verantwortlichen zu entlasten. Zum Teil wird auch schlicht gelogen! Der frühere Generalvikar Norbert Feldhoff beispielsweise ist sehr wohl ein exzellenter Kenner auch des kirchlichen Strafrechts. Da wurde im heutigen Gutachten doch eher eine Verteidigungslinie aufgebaut, die die Hauptvertuscher entlastet.

Erklärt sich für Sie jetzt deutlicher, warum das erste Gutachten bislang nicht veröffentlicht wurde?

Aus zwei Gründen: Zum einen wurden dort die Hauptvertuscher mit sehr harschen Worten begutachtet, sodass die heute Überführten damals heftig widersprachen und der Kardinal schlichtweg Angst bekam. Zum anderen geht das Münchner Gutachten tatsächlich in seinen Empfehlungen an die systemischen Ursachen heran: Wir brauchen eine Revision der überkommenen Sexualmoral, eine positive Einstellung zu Homosexualität, wir brauchen eine Stärkung der Rechte der Frauen. Das will Kardinal Woelki natürlich nicht hören. Er wollte ein lupenreines juristisches Gutachten, das hat er bekommen. Aber er wollte nicht an die systemischen Ursachen heran.

Grundsätzlich: Was bringen juristische Gutachten wie dieses, wenn es doch gerade der Kirche auch um eine moralische Bewertung des Handelns von Verantwortlichen gehen muss?

Ihren Wert haben juristische Gutachten wie das heutige zweifellos, weil sie die Dinge sauber nach kirchlichem und staatlichem Recht analysieren, mögliche Straftaten und Verantwortlichkeiten benennen. Das ist wichtig, weil man nicht nur frei vom Gefühl her daran gehen kann. Damit ist aber auch die Grenze erreicht. Die Kirche muss sich mit ihrer Botschaft auseinandersetzen. Und diese Botschaft ist die unbedingte Liebe Gottes zu den Menschen, vor allem zu den Schwachen und Kleinen. Daran muss die Kirche zweifellos weiterarbeiten.

Sowohl Kardinal Woelki selber als auch Bischof Felix Genn haben den Vatikan mit diesem Fall befasst. Was wird jetzt aus diesen Initiativen?

Mit Blick auf die Initiative von Bischof Genn muss man den Eindruck gewinnen, dass der Vatikan sich nicht an seine eigenen Regeln hält und ihn nicht mit einer Untersuchung beauftragt. Kardinal Woelki hat heute gesagt, dass er das Gutachten sofort nach Rom schickt. Dann wird man in ein paar Wochen sehen, dass der Heilige Vater ihm die Absolution erteilt und Kardinal Woelki Erzbischof von Köln bleiben kann.

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