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Als „Enthüllungsbuch“ sind die Memoiren von Erzbischof Georg Gänswein, dem langjährigen Sekretär von Benedikt XVI., angepriesen worden. Skandale lassen sich allerdings nicht finden. Doch das macht den Inhalt nicht weniger brisant.
Das Timing war je nach Standpunkt miserabel – oder vielleicht doch optimal gewählt: Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (1927-2022) war noch nicht begraben, da tauchten in italienischen Medien schon die ersten Auszüge aus den Memoiren des langjährigen Privatsekretärs Georg Gänswein auf. Als „Georgs Angriff auf Bergoglio“ wertete etwa die Zeitung „Il Messaggero“ die Vorabveröffentlichungen. Gleich mehrere Kardinäle und Erzbischöfe mahnten daraufhin in Interviews, Gänswein solle besser schweigen.
Sogar Bemühungen um einen Stopp der Veröffentlichung soll es gegeben haben. Doch die Einflussmöglichkeiten des Heiligen Stuhls auf eines der größten italienischen Verlagshäuser erwiesen sich als begrenzt. Und so warteten in der Woche nach dem Papstbegräbnis viele auf das offizielle Erscheinen des Buches an diesem Donnerstagmorgen. Die Druckfahnen machten jedoch schon vorher in der vatikanischen Kurie und unter den „Vaticanisti“ in Rom die Runde.
Freimaurer gratulieren Franziskus herzlich
Bei Lektüre des 336-Seiten-Werkes wird nach wenigen Seiten deutlich, worin die eigentliche Brisanz dieser Memoiren besteht – für die der Privatsekretär offensichtlich schon vor etlichen Jahren viele genaue Notizen gemacht und ausgewertet hat.
Da berichtet Gänswein vom Glückwunsch des Chefs der größten italienischen Freimaurer-Loge nach der Papstwahl von Kardinal Jorge Bergoglio im März 2013. Sie fallen – anders als acht Jahre zuvor – sehr herzlich und beinahe überschwänglich aus. Ganz so, als wolle der Autor damit sagen: Die Freimaurer (also die Feinde der Kirche) liebten den neuen Papst; den alten hingegen mochten sie nicht – was aus seiner Sicht eine Art Gütesiegel für den Letzteren ist.
Spannungen zwischen Franziskus und Benedikt
Das Buch schildert drei Abschnitte aus dem Leben des verstorbenen Papstes: Seine Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation (1982-2005), sein Pontifikat (2005-2013) und die knapp zehn Jahre als „Papa emeritus“ (2013-2022). Gänswein hat die Hauptfigur des Buches in allen drei Phasen als Privatsekretär begleitet. Allerdings holte ihn Ratzinger erst gegen Ende seiner Präfekten-Zeit an seine Seite. Dass der provisorische Nachrücker dann unerwartet zum Papstsekretär aufstieg, war für den Vorgänger, Bischof Josef Clemens, schwer zu verkraften. Die daraus folgenden Animositäten zwischen Vorgänger und Nachfolger sind auch in Gänsweins Buch Thema.
Doch anders als dieses allzu menschliche Zerwürfnis in der zweiten Reihe, das man ähnlich in jeder Verwaltung und in jedem Verein finden kann, ist es mit dem Hauptthema des Buches: Es handelt vom Miteinander und Nebeneinander eines emeritierten und eines amtierenden Papstes. Und deshalb spielen dort neben den persönlichen Unterschieden und Spannungen vor allem politische, kirchenrechtliche und dogmatische Aspekte eine wichtige Rolle.
Benedikts Rücktritt regelwidrig?
Gänswein kämpft dabei an mehreren Fronten. Zum einen versucht er, all jenen traditionell-katholischen Ultras die Basis für ihre Argumente zu entziehen, die meinen, dass Benedikts Rücktritt regelwidrig war und die Wahl von Franziskus deshalb nicht rechtsgültig gewesen sei.
Nach Art der deutschen Reichsbürger bestreiten sie die Rechtmäßigkeit der aktuellen Kirchenführung und ihrer Beschlüsse; in ihren Augen ist der Stuhl Petri vakant. Deshalb schildert Gänswein ganz genau, wie es zu einigen kleinen Fehlern und Versprechern in Benedikts Rücktritts-Ankündigung und in der Abschiedsrede kam, die von diesen Verschwörungstheoretikern gerne als „Beweise“ für ihre wirren Thesen herangezogen werden.
Benedikt sei Franziskus ergeben gewesen
An einer anderen Front versucht Gänswein, die Behauptung zu widerlegen, dass der Ex-Papst seinem Nachfolger immer wieder „Knüppel zwischen die Beine“ geworfen und eine Art konservative Opposition betrieben habe. Ausführlich schildert er ab dem Tag der Wahl die Ergebenheitsadressen des alten an den neuen Papst, die herzlichen Begegnungen der beiden, den Austausch von Süßigkeiten als Gastgeschenke und vieles mehr. Vor allem unterstreicht er eine Aussage, die auch Franziskus öffentlich bestätigt hat: Dass der alte Papst all jene aus seinem Wohnzimmer hinauskomplimentiert habe, die zu ihm kamen, um sich bei ihm über den neuen Papst zu beklagen.
Trotz vieler solcher Harmonie-Anekdoten verschweigt aber auch Gänswein nicht, dass es einige Male in den knapp zehn Jahren der „Kohabitation“ auch handfeste Friktionen und Meinungsverschiedenheiten gab. Eine davon wirkte sich postwendend auf Gänsweins eigene Stellung „am Hofe“ des regierenden Papstes aus: die Affäre um eine Buchveröffentlichung des konservativen Kardinals Robert Sarah.
Schwierige Koexistenz von zwei Männern in Weiß
Dieser nutzte einen Gastbeitrag des alten Papstes gegen eine Liberalisierung des priesterlichen Zölibats aus, um eine Ko-Autorenschaft Benedikt/Sarah für ein Buch mit stramm konservativen theologischen Thesen zu behaupten. Weil es Gänswein nicht gelang, dieses Manöver zu verhindern, sagte ihm der Papst, er solle sich ab sofort nur noch um den damals schon 92-jährigen Alt-Papst kümmern und seine repräsentative Rolle am großen Päpstlichen Hof ruhen lassen.
Jenseits der persönlichen Verletzung, die ihm Franziskus damit zufügte, zeigt die Episode genau den „delikaten“ Punkt einer Koexistenz von zwei Männern in Weiß im Vatikan, auf den inzwischen viele hochrangige Geistliche im Vatikan hinweisen – bis hin zum Kardinalstaatssekretär: Solange der „Papa emeritus“ noch sprech- oder schreibfähig ist, besteht die Gefahr, dass er von jenen ausgenutzt wird, die weiter an seiner theologischen Linie hängen und mit der des neuen Papstes fremdeln.
Haar-Risse an der Kirchenspitze im Vatikan
Solche Haar-Risse an der Kirchenspitze, die Gänswein in seinem Buch anschaulich schildert, haben je nach Temperament der Protagonisten das Zeug, sich zu Spannungen, Polemiken und letztlich auch zu Spaltungen auszuweiten. Das ist der Hauptgrund, warum das Buch im Vatikan so viel Wirbel macht. Der zweite ist der Eindruck, dass da jemand ungebührlich viel Hintergründiges und Persönliches ausgeplaudert habe – und das auch noch zum falschen Zeitpunkt.