Anzeige
Hässlicher Betonbau, erhaltenswerte Architektur oder beides? Kirchen, die in der Nachkriegszeit erbaut worden sind, haben keine so große Lobby wie Kirchen, die aus dem Mittelalter stammen. Wenn solche modernen Kirchen auch noch abgerissen werden, verschwinden sie aus dem öffentlichen Bewusstsein, sagt die Kunsthistorikerin und Theologin Karin Gisela Berkemann aus Frankfurt am Main.
Sie forscht zu Kirchen des 20. Jahrhunderts und gibt seit 2014 „moderneREGIONAL“, ein nicht-kommerzielles Online-Magazin zu „Kulturlandschaften der Nachkriegsmoderne“ heraus. Dafür erhielt sie 2018 mit ihren Kollegen Daniel Bartetzko und C. Julius Reinsberg den Deutschen Preis für Denkmalschutz in der Kategorie Internetpreis.
Ein Aspekt des Magazins: Unter der Rubrik „invisibilis“ sind mehr als 1.400 kirchliche Gebäude der letzten rund 170 Jahre aufgelistet, die geschlossen, umgenutzt, abgerissen oder vom Abriss bedroht sind. Eine virtuelle Karte mit Suchfunktion nach Patrozinium, Architekt oder Postleitzahl fungiert dabei als „Kirchenwiederfinder“. Die Frage dahinter: „Kann eine moderne Kirche unsichtbar werden? Und was kann man dagegen tun?“
Frau Berkemann, Sie setzen sich stark für Kirchengebäude der Nachkriegsmoderne ein: Warum ist es so wichtig, solche Bauten zu erhalten, gerade, wenn sie als Kirchen gar nicht mehr gebraucht werden?
Jede Epoche und jede Generation bringen Kirchen hervor, die baukünstlerisch zum Teil gut sind, und zum Teil weniger gut. Ein emotionaler sowie ein zeitlicher Abstand ist für die Beurteilung wichtig. Jedes Kirchengebäude hat über die architektonischen Aspekte hinaus auch einen Identitätswert, der häufig nicht viel damit zu tun hat, ob das Gebäude baukünstlerisch wertvoll ist oder nicht.
Bei Nachkriegskirchen wird meist noch emotionaler über eine Notwendigkeit des Erhalts diskutiert, weil diese Entscheidung genau die Generation betrifft, die diese Kirche aufgebaut hat. Häufig leben diese Menschen noch, oder die Kinder engagieren sich noch in der Gemeinde. Da hat man sich die Spende vom Munde abgespart und hat geholfen bei den Bauarbeiten. Diese Bindung an die Bauzeit, die gibt es bei gotischen Kirchen nicht.
Wie bekommen Sie die Hinweise darauf, welche Kirchen vor dem Vergessen bewahrt werden sollen?
Karin Gisela Berkemann. | Foto: privat
Die Informationen erhalten wir auf sehr unterschiedlichen Wegen: aus der Fachliteratur, durch die Presse, aber auch durch unsere Leser. Das Projekt „invisibilis“ startete 2017 und zielt spezifisch darauf ab, ein Gedächtnis zu sein für solche Gebäude. Die Erfahrung dahinter ist, wenn eine Kirche aus der liturgischen Nutzung genommen, sogar abgerissen oder in eine andere Nutzung gegeben wird, dann ändert sich der Name. Der ehemalige Eigentümer nimmt meist die Informationen aus dem Netz, und der neue Nutzer hat häufig kein Interesse, die Ursprungsgeschichte darzulegen. „invisibilis“ bewahrt so nicht nur Erinnerungen, sondern ist auch ein Alarmanzeiger dafür, wenn kirchlichen Gebäuden Unheil droht.
Mir ist es wichtig, wenn ich Gebäude auf der virtuellen Karte eintrage und Fakten in der Datenbank hinterlege, dass es sich nicht um Geheimwissen handelt, sondern um Informationen, die öffentlich zugänglich sind.
Was bekommen Sie für Rückmeldungen auf den „Kirchenwiederfinder?“
Viele bedanken sich, dass sie Material gefunden haben über den Ort, an dem sie oder ihre Kinder getauft oder getraut worden sind, oder die sagen: „Ich bin weggezogen und finde die Kirche nicht mehr im Netz. Endlich habe ich bei Ihnen ein Bild wiedergefunden.“ Sie bedanken sich für das Wachrufen schöner Erinnerungen.
Oder es sind Kinder oder Enkel von Architekten oder Künstlern, die sich mit Familienforschung befassen und etwas über das Werk ihrer Verwandten suchen. Sie freuen sich dann sehr, dass sie bei uns Informationen finden und geben uns wiederum Informationen. Interessant ist unsere nicht-kommerzielle Datenbank auch für Forscher, Studierende und im Bauwesen tätige Menschen, die speziell zu Kirchen arbeiten, und die sagen: „Bei euch habe ich eine gute Übersicht, man kann gut suchen. Das ist für mich ein guter erster Recherchepunkt, um von dort weiterzuarbeiten.“
Die Bandbreite der Reaktionen ist sehr groß. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele positive Rückmeldungen darunter sind, weil das Thema meist kontrovers dargestellt und diskutiert wird. Was mit Kirchenbauten passiert, ist ja immer auch ein Streitpunkt.
Es sind einige Kirchen auf der Karte aufgelistet aus unserem Bistum, die den Status „bedroht“ tragen, zum Beispiel Sankt Maria Magdalena in Laggenbeck oder Mariä Himmelfahrt in Greven…
Mehr zum Thema im Internet: www.moderne-regional.de/kirchen/
Nordrhein-Westfalen ist leider einer der Hotspots von Kirchenaufgaben und -umnutzungen: Fast 50 Prozent unserer Beispiele auf „invisibilis“ stammen aus diesem Bundesland. Hier wurde nach dem Zweiten Weltkrieg besonders dicht und intensiv gebaut und hier ist auch der aktuelle soziologische Wandel besonders sichtbar – und damit werden hier eben auch viele Kirchen aufgegeben. Gleichzeitig ist NRW eine Region, in der im 20. Jahrhundert eine außergewöhnlich qualitätvolle Kirchenarchitektur entstanden ist.
Fällt Ihnen dazu ein Gebäude ein?
Ein Objekt, das ich leider persönlich nicht kenne, das ich aber sehr spannend finde, steht in Gelsenkirchen. Das können Sie auch bei uns in der Datenbank finden: die evangelische Stephanuskirche in Gelsenkirchen-Buer. Es handelt sich um eine Stahlbetonkonstruktion von 1970, ein Spätwerk des Architekten Peter Grund. Ein fabelhafter, denkmalgeschützter Bau, der sich wie ein Dreiecksprisma nach vorne schiebt, wie ein Schiffsbug nach oben ragt mit einer ganz intensiven künstlerischen Verglasung.
Diesem Bau ist etwas widerfahren, was im Moment typisch ist: Die Kirche soll, so ist zumindest die Willensbekundung, weiter liturgisch genutzt werden. Man hat aber das Gemeindehaus abgerissen und die so entstandene Freifläche abgegeben. Dort entstand ein vielgeschossiges Altenheim – das hat natürlich finanzielle Vorteile für die Gemeinde und damit hoffentlich auch für den Erhalt der Kirche. Das Problem ist nur, dass Kirchen der 1950er, 60er und oft 70er Jahre oft gestaltet sind wie ein Kunstwerk, das viel Platz um sich herum braucht, um zu wirken. Wenn sie dann wie in Gelsenkirchen „auf Knirsch“, ganz nah am Kirchenbau, hohe Häuser errichten, die Kirche quasi einkesseln und übertrumpfen, bis sie keine Luft mehr bekommt, dann kann das selbst die beste Nachkriegsarchitektur optisch kaputt machen.
Daher finde ich es sehr schade, dass einige Gemeinden nicht stärker die fachliche Beratung der staatlichen Denkmalpflege in Anspruch nehmen. Gemeinsam könnte man in solchen Fällen eine gute Lösung für den Bau und seine Nutzer finden – und im Zweifelsfall noch Geld sparen. Denn manchmal muss man gar nicht so viel und kostspielig umbauen, wie man es am Anfang dachte.
Auch dank Corona haben Sie außerdem das „Kleinkirchenprojekt“ ins Leben gerufen. Was hat es damit auf sich?
Grundsätzlich haben wir uns bei „moderneREGIONAL“ der Baukunst des 20. Jahrhunderts verschrieben, von der Architektur über den Städte- und Gartenbau bis zu Design, Fotografie und Kunst am Bau, da verzeichnen wir etwa 1.500 Zugriffe am Tag. Besonders am Herzen liegen uns die häufig vernachlässigten „kleinen“ Formate, Regionen und Bautypen. Das „Kleinkirchenprojekt“, in dem wir in Podcasts und Fotostrecken besonders sehenswerte Bauten vorstellen, ist aus einer persönlichen Praxis heraus entstanden: Mein Lebensgefährte und ich sind beide architekturbegeistert und in Corona-Zeiten oft herumgefahren, um uns Kirchen anzuschauen. Auch in unserem Freundeskreis haben viele angefangen, die Spazierrunde in ihrem Viertel immer größer zu ziehen und immer neue Architekturen zu entdecken. Daher wollen wir unsere Leser bei moderneREGIONAL auf gute Gebäude aufmerksam machen, die einen Besuch lohnen.