Aufarbeitung im Vinzenzwerk in Handorf gestaltet sich schwer

Missbrauch im Kinderheim in Münster - Schwestern schützten Pfarrer N.

  • Das Vinzenzwerk, sozial- und heilpädagogisches Heim für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Münster-Handorf, taucht in der Missbrauchsstudie für das Bistum Münster mehrfach auf.
  • Den Ordensschwestern, die zu Zeiten der Taten in der Verantwortung standen, wird Verantwortungslosigkeit vorgeworfen.
  • Die Aufarbeitung des Fehlverhaltens im Umfeld der Taten des Pfarrers N. gestaltete und gestaltet sich schwierig.

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„Vinzenzwerk…“ Der Name des Sozial- und Heilpädagogischen Heims für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Münster-Handorf taucht im Gutachten zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster einige Male auf. In der Fallstudie über den Priester Franz N. wird beschrieben, wie er sein ehrenamtliches Engagement in der Einrichtung genutzt hat, ein Vertrauensverhältnis zu Minderjährigen aufzubauen, um sie sexuell zu missbrauchen. Perfide geplant und grausam umgesetzt.

Neue Informationen zu dem Fall liefert das Kapitel für die Verantwortlichen der Einrichtung kaum. „Es ist trotzdem noch einmal etwas anderes, all das schwarz auf weiß vor Augen geführt zu bekommen“, sagt Leiter und Geschäftsführer Bernhard Paßlick. Unverständnis, Enttäuschung und Wut, die es auch zuvor schon gab, haben mit dem Geschriebenen neue Nahrung bekommen. Und auch die Vorwürfe: „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass diese Taten hier im Haus geschehen konnten und gedeckt wurden.“

Schutz der Täter-Institution an oberster Stelle

Er spricht über die Taten zwischen 1960 und 1971. Der schwere Missbrauch und die ausbleibende Konsequenz seitens der Personalverantwortlichen im Bistum sind dabei die eine Seite, die ihn sprachlos macht. „Die Kultur des Schweigens und des Täterschutzes im Vinzenzwerk ist aber nicht weniger erschreckend“, sagt Paßlick. Er nimmt dabei vor allem die Ordensschwestern Unserer Lieben Frau in den Blick, die die Einrichtung damals leiteten. „Sie waren Teil der Täter-Institution Kirche und haben alles getan, um kein schlechtes Licht auf Kirche und Geistliche fallen zu lassen.“

„Bystander“, nennt die Studie diese Akteure. Gemeint sind Personen im Umfeld der Taten und des Täters, die vom Missbrauch wussten oder ihn erahnten, ihn aber nicht öffentlich machten, keine Meldung an verantwortliche Stellen zuließen und ihn zum Teil bewusst vertuschten. Die Wissenschaftler kommen in der Studie zu dem Ergebnis, „dass die dort arbeitenden Schwestern sowohl vor 1960 als auch zwischen 1966 und 1970/71 von Übergriffen des Priesters erfahren haben“.

Denn bei der Freizeitgestaltung, im Umfeld von Gottesdiensten in der Hauskapelle oder bei Urlauben, zu denen der Priester Kinder aus der Einrichtung mitnahm – keiner war so nah an den Geschehnissen wie die Schwestern. Eine Meldung an das Bistum kam aber nie von ihnen. Und noch mehr: Als ein Opfer einmal den Ordensfrauen die Taten offenbarte, habe er diese Antwort bekommen: „Hör auf damit und erzähl nicht so blödes Zeug!“

Geistlicher stand auf einem Sockel

Bernhard Paßlick leitet heute das Vinzenzwerk als Geschäftsführer. | Foto: Michael Bönte
Bernhard Paßlick leitet heute das Vinzenzwerk als Geschäftsführer. | Foto: Michael Bönte

„N. war ein Geistlicher und stand für die Schwestern allein dadurch schon auf einem unangreifbaren Sockel“, sagt Paßlick. „Dass er auch seelsorglicher Ansprechpartner für sie war, unterstützte diese Rollenverteilung.“ Zudem sei es der Einrichtungsleitung, die immer von einer Ordensfrau besetzt war, wichtig gewesen, jeglichen Verdacht vorzubeugen, das Vinzenzwerk habe generell Probleme mit sexuellen Übergriffen. „Es ging ihnen einzig darum, die katholische Kirche und ihre Einrichtung zu schützen.“

2010 wurde diese abrupt zur Auseinandersetzung gezwungen. Der „Spiegel“ meldete sich, ein ehemaliger Bewohner des Vinzenzwerks hatte als Opfer sexuellen Missbrauchs Kontakt zum Magazin aufgenommen. Es gab eine Pressekonferenz, die Aufarbeitung wurde sofort angestoßen, das Archiv wurde in den Blick genommen, mögliche weitere Opfer ermutigt, sich zu melden. Zehn weitere Betroffene offenbarten in den vergangenen Jahren ihr Leid.

Schwestern wurden ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht

„Die Vorwürfe gegen die Schwestern, nichts gegen den Missbrauch unternommen zu haben, sind richtig“, sagt die damalige Einrichtungsleiterin, Schwester Mechthild Knüver. „Sie sind darin ihrer Fürsorgepflicht nicht gerecht geworden.“ Oft unwissend, überfordert mit den Vorgängen, manchmal auch aktiv vertuschend.

Die Gründe sind für die Ordensfrau ähnliche, wie sie für andere „Bystander“ im kirchlichen Umfeld gelten. „Der Klerikalismus war bei den Schwestern sicherlich enorm ausgeprägt“, sagt sie. „Es kam jemand, der die heiligen Sakramente spenden konnte, der Absolution erteilen konnte, der ihnen das Allerheiligste gab.“ Ein Geistlicher wurde nicht infrage gestellt, schon gar nicht mit Sexualität in Verbindung gebracht.

Priester N. war willkommener Gast

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Schwester Mechthild Knüver (links) und Schwester Josefa Maria Bergmann. | Foto: Michael Bönte
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: Schwester Mechthild Knüver (links) und Schwester Josefa Maria Bergmann. | Foto: Michael Bönte

Der Priester N. stand diesbezüglich überhaupt nicht auf der Agenda der Schwestern. Er kam am Wochenende ehrenamtlich ins Vinzenzwerk und war herzlich willkommen, sagt Schwester Mechthild: „Als junger Geistlicher, als sympathischer Seelsorger und vor allem als eins: als eine große Hilfe.“ Die Schwestern waren dankbar, wenn er mit einigen Kinder im Bulli einen Ausflug machte. Die Belastung als Erzieherinnen in den Gruppen war gerade an Tagen ohne Schulunterricht groß.

Dass er dabei sexuellen Missbrauch anbahnte und durchführte, war außerhalb des schwesterlichen Horizonts, sagt Schwester Josefa Maria Bergmann, die sich als aktuelle Provinzoberin ebenfalls mit den Ergebnissen der Studie auseinandersetzt. „Im Grunde waren sie sexuell gar nicht richtig aufgeklärt, ihnen fehlten Kenntnis und Worte dazu.“ Diese Sprachlosigkeit macht sie an einem Beispiel fest. „Wenn ein Junge bei der Selbstbefriedigung gesehen wurde, wussten sie überhaupt nicht, was er da machte.“

Vulnerable Kinder in unprofessionellen Händen

Für Paßlick liegt darin ein zentraler Kritikpunkt. „Die Schwestern waren allein durch ihre Profess qualifiziert, als Erzieherinnen im Einsatz zu sein.“ Oft keine, manchmal nur eine kurze pädagogische Fortbildung reichte ihnen für diesen Beruf.

„Das Thema Sexualität ist da sicher nicht ausreichend besprochen worden.“ Und das in einem „vulnerablen Umfeld“, wie er es nennt. „Die Kinder hier kommen aus prekären Lebenssituationen, haben oft familiären Missbrauch erlebt – die Entwicklung der eigenen Sexualität ist für sie eine große Herausforderung.“

Sichere Kulisse für Missbrauch

Dieses Profil der Schwestern sowohl in der Leitung der Einrichtung als auch in der erzieherischen Arbeit war für N. eine sichere Kulisse für seine Taten. Die einzige Meldung, die in den Jahrzehnten an das Bistum ging, kam dann auch nicht von den Ordensfrauen, sondern von einer Sozialarbeiterin, die für die Vermittlung der Heimkinder an Pflegefamilien verantwortlich war. Ihr hatten zwei Jungen von der Aufforderung des Priesters zur Selbstbefriedigung berichtet. Die Reaktion der Bistumsverantwortlichen reduzierte sich auf einen Rückruf mit der Frage, ob die Sozialarbeiterin schweigen könne, heißt es in der Studie.

„Das sagt eigentlich alles“, sagt Paßlick. „Das System, Missbrauch nicht an die Oberfläche kommen zu lassen, funktionierte umfassend.“ Der Einrichtungsleiter wird deutlich: „Es war deshalb wichtig, dass die Schwestern die Verantwortung abgegeben haben, damit eine neue Atmosphäre entstehen konnte.“ Oder noch deutlicher: „Mit den Schwestern wäre es sicher schwerer gewesen, sich im Umgang mit dem Thema ganz neu aufzustellen.“ Nicht, dass er einzelnen Ordensfrauen, die noch bis etwa 2015 im erzieherischen Bereich im Einsatz waren, konkrete Vorwürfe macht. Doch sie waren wie ein Symbol für das jahrzehntelange Versagen beim Schutz der Heimkinder vor Missbrauch.

Thema Sexualität blieb schwierig

„Ein solcher Blick ist verständlich“, sagt Schwester Josefa Maria Bergmann. „Wir waren als Ordensgemeinschaft weiter präsent – auch mit unserer fragwürdigen Seite.“ Auch in ihren Augen brauchte es in der Einrichtung Zeit und neue Kräfte, um einen Mentalitätswechsel zu erreichen. Denn die Schwestern hätten nicht jeden Schritt mitgehen können, sagt Schwester Mechthild. „Die drei verbliebenden Erzieherinnen aus unserem Konvent nach 2010 haben sich seinerzeit geweigert, an der verpflichtenden Präventionsschulung aller Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen teilzunehmen.“

Klingt erschreckend. Aber für die Schwestern, die das Rentenalter überschritten hatten und aus einer Zeit kamen, in der man über Sexualität überhaupt nicht sprach, war das eine fast logische Reaktion. Schwester Mechthild fasst deren Haltung so zusammen: „So ein Schweinskram – und da sollen wir einen ganzen Tag zuhören...“

Neue Haltung

So verlief mit den alten Ordensfrauen die Aufarbeitung des Missbrauchs im Vinzenzwerk aufgrund dieser Altersstruktur schleppend. 22 Schwestern leben im Konvent in Coesfeld, Durchschnittsalter 82 Jahre. „Es war schwer, eine 92-Jährige mit einer Sichtweise zu konfrontieren, die vor 50 Jahren in keinster Weise infrage gestanden hatte“, sagt Schwester Josefa Maria.

Vielmehr war es ein gemeinsamer Weg, große Scheu vor dem Thema zu überwinden und eine neue Haltung zu entwickeln. Es gibt mittlerweile eine offizielle Ansprechpartnerin in Missbrauchsfragen. Die Ordensfrauen wurden zudem zu einer freiwilligen „Selbstauskunftserklärung“ aufgefordert.

Es gab aber kaum Rückmeldung auf die Frage: „Gibt es Situationen, in denen ich falsch gehandelt habe?“ Die Scheu im Umgang mit dem Thema ist gerade bei den älteren Schwestern noch groß. „Ich hoffe aber, dass es uns mittlerweile allen gelungen ist, die Situation der Opfer an oberste Stelle unserer Auseinandersetzung zu stellen.“