Dinklager Einrichtung gibt Menschen neue Perspektiven

Zu Besuch in der Martinsscheune - warum Obdachlose jünger werden

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Aus dem Knast entlassen, als Durchreisende auf der Straße unterwegs oder als osteuropäische Saisonarbeiter in Deutschland gestrandet – die Martinsscheune beim Benediktinerinnenkloster Dinklage (Landkreis Vechta) bietet Menschen in Not vorübergehend ein Dach über dem Kopf. In letzter Zeit, so die Leiterin Schwester Johanna Wiese, klopfen immer mehr junge Leute an. Ina und Robert zum Beispiel werden dort wohl auch Weihnachten feiern.

Ina (Name geändert) hatte zuletzt mit ihrem Freund im Auto gewohnt, auf einem Parkplatz in der Stadt. „Wir haben die Fenster mit Decken abgedichtet. So ging es“, erklärt ihr Freund Robert (Name geändert). „Tagsüber haben wir uns Lebensmittel im Supermarkt besorgt, geduscht haben wir ab und zu auf einem Rasthof.“ Von September bis Mitte Oktober ging das so, nachdem Inas Mutter die beiden 21-Jährigen rausgeworfen hatte.

Ina berichtet von komplizierten Erbstreitigkeiten um ein Haus, das eigentlich ihr gehört habe. Robert erzählt von seinen Eltern, die ihn ebenfalls nicht mehr wollten, nachdem er seine Lehre abbrechen musste. Schuldlos, wie er betont. „Zu Hause hat es dann so extrem gekracht, dass ich gesagt habe: Es geht nicht mehr.“ Als beide nicht wussten, wohin, blieb zunächst nur Roberts kleiner Renault, bis sie vorübergehend einen Platz in der Dinklager Martinsscheune fanden.

Früher zumeist umherziehende Wohnungslose

Dort, neben dem Kloster der Dinklager Benediktinerinnen, ist seit 25 Jahren vorübergehend Platz für Menschen ohne Obdach. Und die haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert, sagt die Benediktinerin Schwester Johanna Wiese, die als eine Art Herbergsmutter die Martinsscheune leitet.

„Als wir vor fast 25 Jahren hier anfingen, kamen meist Menschen, wie wir sie als umherziehende Wohnungslose kennen: Meist Männer auf der Durchreise, die allein oder im Trupp unterwegs waren, mit oder ohne Hund oder Fahrrad. Menschen, die das als Kultur für sich gelebt und entschieden haben. Das ist anders geworden: Die Leute sind jünger geworden. Wir hatten schon eine ganze Reihe 19- bis 20-Jährige, Kinder fast“, berichtet Wiese.

Junge Leute, von zu Hause rausgeflogen

Die Benediktinerin kennt viele ihrer Geschichten. „Von jungen Menschen, die zu Hause rausgeflogen sind, weil es mit Eltern oder Stiefeltern nicht ging. Die aber nicht herumziehen, sondern versuchen irgendwo unterzukommen. Zuerst versuchen sie es mit Couch-Hopping bei Freunden, bis das nicht mehr funktioniert. Und dann landen sie bei uns.“ Auch, weil es viel zu wenige Sozialwohnungen gebe.

Eben Menschen wie Ina und Robert. Die sich nicht freiwillig oder bewusst fürs Umherziehen und Schlafen unter freiem Himmel entschieden haben, sondern aus anderen Gründen auf der Straße gelandet sind. Und die für das Team der Martinsscheune eine ganz neue Herausforderung bedeuten.

Junge Leute brauchen eine andere Art von Hilfe

Schwester Johanna erklärt: „Weil es nicht wie bei umherziehenden Wohnungslosen um einen kurzen Aufenthalt geht, sondern um neue Perspektive für ihr Leben.“ Das brauche Zeit und das könne die Martinsscheune auch meist nicht selbst lösen. „Aber wir haben dafür hier ein gutes Netz zur Verfügung. SKFM, Caritas, eine Rechtsanwältin, gute Kontakte zum Landkreis und zu Krankenkassen.“

Dabei kommen auch weiterhin alleinstehende Wohnungslose in die Martinsscheune, wenn auch in der Coronazeit deutlich weniger. Wohl auch, weil im Lockdown das Herumreisen unmöglich war. Jetzt, in der letzten Novemberwoche, lebt unter anderem Günter in dem Gebäude hinter der Ökonomie der Burg Dinklage. Der 67-Jährige mit dem wettergegerbten Gesicht war über Jahrzehnte auf der Straße unterwegs.

In der Martinsscheune leben alle zusammen

Der gelernte Koch aus Bremen erzählt von seiner Scheidung, die 1998 sein altes Leben zerstört und ihn auf die Straße getrieben habe. Ab und zu kann man ihn vor einem Supermarkt in Dinklage sehen. Am Monatsende sitzt er dort, mit einem Pappbecher vor sich und bettelt. Seit Juli ist er in der Martinsscheune. Vorübergehend, denn in ein paar Tagen könne er in eine eigene Wohnung umziehen, sagt er und lächelt zufrieden. Endlich.

Oder Ralf, der seine Lage mit einem ausgeprägt hessischen Dialekt schildert. Wie der 65-Jährige 1991 zum ersten Mal seine Wohnung verlor. „Eine Erbengemeinschaft hat damals mich rausgehauen.“ Zwischendurch hatte er zwar wieder eine Bleibe, seit 2011 ist er aber wieder unterwegs. Und jetzt würde er gerne endgültig irgendwo „festmachen“, auch wegen seiner schweren Herzerkrankung. Aber die Wohnungssuche sei nicht einfach. Da ist er froh, dass er den Winter über erstmal in der Martinsscheune bleiben könne.

Weihnachten feiern sie in der Martinsscheune

Weihnachten werden sie wohl gemeinsam feiern. „Wir sitzen für die Zeit hier ja alle in einem Boot“, sagt Ina. Zumindest, wenn sie und ihr Freund bis dahin keine Wohnung finden. Anrufe bei Vermietern und Besichtigungen haben bisher zu nichts geführt. Der Verweis, dass die Miete „vom Amt“ übernommen wird und sie und ihr Freund derzeit nicht arbeitsfähig seien, habe die meisten wohl abgeschreckt.

Kurz vor dem ersten Advent ist das Gestell für den Adventskranz auf dem Esstisch im Gemeinschaftsraum der Martinsscheune schon aufgebaut. Auf der Fensterbank steht ein Engel aus Porzellan und zum Fest wird auch ein Baum aufgestellt. Wieviel Weihnachtsstimmung aufkommen wird, ist aber noch nicht sicher.

Ina sagt: „Ich bin nicht traurig.“

„Weihnachten ist eben eine sensible Zeit, nicht nur hier, auch draußen“, sagt Schwester Johanna. „Wir haben alle eine Sehnsucht danach, und Erwartungen. Und hier sind Menschen, die das vielleicht gerne anders erleben möchten als in einer Obdachlosenunterkunft. Vielleicht ist der kleinste Modus: Wir essen schön zusammen.“ Für Ina und Robert ist es wenigstens besser als ihre Erinnerungen an das Fest früher zu Hause: „Wir haben Weihnachten in der Familie nur mit Streit gefeiert. Deshalb bin ich nicht traurig, dass wir hier mit den anderen zusammen sind.“

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