Münsteraner Diözesancaritasdirektor Heinz-Josef Kessmann im Interview

Caritas hofft auf gesellschaftliches Umdenken durch die Krise

Diözesancaritasdirektor Heinz-Josef Kessmann. | Video: Michael Bönte

Auch die Caritas musste in der Corona-Pandemie mit ihren Beratungs-, Pflege- und Hilfsangeboten auf neue Herausforderungen reagieren. Der Diözesancaritasdirektor erkennt auch positive Effekte.

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Auch die Caritas musste in der Corona-Pandemie mit ihren Beratungs-, Pflege- und Hilfsangeboten auf neue Herausforderungen reagieren. Der Diözesancaritasdirektor im Bistum Münster, Heinz-Josef Kessmann, erkennt im Gespräch mit Kirche-und-Leben.de auch positive Effekte.

Waren Sie bei der Caritas auf eine solche Pandemie-Situation vorbereitet?

Nein. Wie alle anderen Organisationen waren wir gefordert, schnell zu handeln, als die ersten Informationen kamen. Als Institution auf eine solche Pandemie vorbereitet zu sein, ist wohl kaum möglich. Wir haben das Glück gehabt, dass wir sehr früh viele Folgen mitbedacht haben, auch dass wir die Geschäftsstelle in Münster weitgehend schließen mussten. Wir hatten also schon ausprobiert, wie das mit den Homeoffice-Arbeitsplätzen funktioniert. Alle Mitarbeiter waren mit dem Fall vertraut, was sich gerade in den ersten Wochen als wichtig erwies.

Wo hat die Pandemie die Arbeit der Caritas besonders getroffen?

Bei den regelmäßigen, direkten Kontakten in vielen Beratungsbereichen. Neue Wege, zum Beispiel über das Internet, mussten sich schnell etablieren. Wir haben die Krise natürlich auch deutlich in den Krankenhäusern gespürt, die Intensivbetten und Beatmungsmöglichkeiten vorhalten und zum Teil noch realisieren mussten. Und natürlich in der stationären Altenhilfe in den Altenheimen, wo sehr große Sorge war, wenn die Pandemie dort ankommt. Denn ist das ja eine sehr gefährliche Situation für die Bewohner. Und dann ging es in den ersten Wochen und Monaten vor allem darum, unter den Bedingungen des Lockdowns die finanzielle Sicherheit für die Einrichtungen und Dienste herzustellen. Das ist in vielen Bereichen dank der Unterstützung durch Landesregierung und Bundesregierung gut gelungen. Jetzt sind wir in der genau so schwierigen Phase mit der Frage: Wie kriegt man das alles wieder ans Laufen? Wie kann man die Lockerungen so gestalten, dass die Sicherheit unserer Klienten, Bewohner, Kinder und Beschäftigen gewahrt bleibt?

Hat sich die Corona-Krise auf die Anfragen an die Beratungsstellen ausgewirkt?

Eigentlich hatten wir erwartet, dass es ein größeres Maß an Problemanzeigen aus den Familien gibt, die enger zusammenhocken, die damit klarkommen müssen, dass die Kinder nicht so raus können, dass sie ihre Freunde nicht treffen können. Aber da haben wir noch keine erkennbare Veränderung wahrnehmen können.

Die Caritas ist Anwalt der Schwachen, der sozial Benachteiligten – wie ist das in solchen Krisenzeiten möglich?

Wir haben viele neue Angebote entwickeln können, gerade auch mit viel ehrenamtlicher Unterstützung, etwa bei den Einkaufshilfen für Senioren, die ihre Wohnung nicht verlassen wollten. Die Tafelangebote haben sich deutlich gewandelt, um auch unter Corona-Bedingungen ein Angebot zu ermöglichen. Neue und andere Formen dieser Angebote sind entstanden, so dass wir unsere Verbundenheit mit unserem Klientel aufrechterhalten konnten. Das war uns auch wichtig, weil diese Personengruppe in der augenblicklichen Situation noch stärker als sonst an den Rand gedrängt wird. Auf diese Situation sind die Schwachen am Schlechtesten vorbereitet.

Caritas hat sich auch immer für faire Arbeitsverhältnisse in sozialen und pflegerischen Berufen eingesetzt. Wird es durch die Corona-Krise dort Besserungen geben?

Die Caritas hat sich vor der Krise für faire Arbeitsbedingungen in unseren pflegerischen und sozialen Berufen eingesetzt und wird das auch danach tun. Dass diese Berufe in der augenblicklichen Situation eine besonders herausragende und bewundernswerte Leistung erbringen, wird gesellschaftlich anerkannt. Das ist sehr, sehr gut und die Basis dafür, dass wir für unsere Tarife und unsere Bezahlung auch eine entsprechende Refinanzierung finden. Das ist ja häufig das Problem, dass wir zwar gute Arbeitsbedingungen haben, aber wir um die Refinanzierung immer streiten müssen. Auch in der Konkurrenz zu denjenigen, die eine solche Vergütung nicht zahlen. Ich denke, dass durch die Sonderzahlung, die ja jetzt vereinbart ist, ein kleines Stück Anerkennung deutlich wird. Als Vorsitzender der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes zweifle ich aber, ob es gut ist, dass wir diese besondere Vergütung nur für die Pflegenden vorhalten. Ich glaube, in der Behindertenhilfe, in der Jugendhilfe, überall dort gibt es auch viel Herausforderndes.

Wird sich an der Situation dieser Berufe langfristig etwas ändern?

Das ist im Augenblick eine Frage, die uns alle bewegt. Was haben wir gelernt in dieser Phase? Da zeichnet sich noch nichts ab, was sich gesellschaftlich nach der Krise grundsätzlich ändern wird. Ich bin diesbezüglich noch sehr unsicher.

Tragen Sie die politischen Entscheidungen der vergangenen Wochen mit?

Wir mischen uns immer ins politische Geschäft ein. Wir versuchen es zu beeinflussen. Wir versuchen das, was wir aus der Praxis für richtig halten, in die öffentliche Diskussion einzubringen. Zum Beispiel bei den Tageseinrichtungen: Da würde ich sagen, haben wir einen sehr intensiven Austausch mit dem Ministerium. Die Prozesse, die wir jetzt gehen zur Öffnung der Tageseinrichtungen, sind sehr gut miteinander abgestimmt und werden von uns ausdrücklich unterstützt. Insgesamt halte ich es jetzt für wichtig, dass wir möglichst viele Lockerungsschritte gehen können. Im Bereich der Altenhilfe aber haben wir doch eine Menge an kritischen Rückmeldungen. Die leiten wir dann weiter an die politisch Verantwortlichen. Zum Beispiel: War es klug, ohne viel Vorlauf und ohne unser vorheriges Wissen anzukündigen, dass zum Muttertag der Besuch in Altenpflegeeinrichtungen möglich war? Da entstand eine hilfreiche Diskussion, was möglich sein und was verhindert werden sollte. Manches bedarf in diesen Prozessen noch einmal der Schärfung und Klärung.

Gab es denn politische Entscheidungen, die von der Caritas nicht mitgetragen wurden?

Wir haben zu Anfang sehr unter der zu geringen Ausstattung mit Hygieneschutzartikeln gelitten, also Schutzmasken, Schutzkleidung, Desinfektionsmittel. Das ist sicherlich so, dass durch die Sparprozesse der Vergangenheit hier eine gewisse Sparsamkeit in der Vorratshaltung entstanden ist. Das hat uns zu Anfang der Krise doch wirklich das meiste an Schweiß gekostet. Das Personal ist oft fast ungeschützt in den Umgang mit Senioren in den Altenheimen oder in den Pflegediensten gegangen. Es macht deutlich, dass ein Gesundheits- und ein Pflegesystem Kosten in der Vorsorge verursacht. Wenn wir jetzt nach der Corona-Krise in die Landeskrankenhausplanung wieder einsteigen, dann werden wir deshalb noch mal darüber nachdenken müssen, ob nicht vielleicht eine Struktur mit kleineren Häusern, die regional verteilt eine gewisse Gesundheits- und Daseinsvorsorge schaffen, ein sehr hohes Gut ist. Wir haben schon immer gesagt, dass wir eine solche Fürsorge nicht einfach nur zentralisiert in den Großstädten auf einem hohen Niveau bieten sollten, sondern dass es dringend auch einer regionalen Verteilung und einer kleinteiligeren Struktur bedarf. Ich hoffe, dass es nach der Corona-Krise mehr Verständnis dafür gibt. Und dass sie, auch wenn es ein Stück nur Vorhalteleistung war, tatsächlich ein Stück Sicherheit geben. Sie waren ein wichtiger Faktor dafür, dass wir bislang so gut durch die Krise kommen konnten.

Was kann die Caritas für ihre Arbeit aus der Corona-Krise lernen?

Wir haben gelernt, grundlegend mit solchen Krisen umzugehen und sie für wahrscheinlicher zu halten, als wir sie vor einem halben Jahr gehalten haben. Wir werden sehr viel aufmerksamer die Welt beobachten. Ich glaube, wir werden nicht mehr so einfach sagen: Was interessiert mich, ob in China ein Sack Reis umfällt? Das hat uns in der globalisierten Welt eben doch zu interessieren. Ich glaube, wir werden noch genauer hinschauen müssen als Caritas, als Kirche, wie die sozialen Verhältnisse in unserer Gesellschaft sind, weil sich doch gezeigt haben, dass schlechte Lebenssituationen in der Krise sich doppelt schlecht auswirken. Wir müssen nur an die osteuropäischen Arbeiter in der Fleischindustrie denken oder an die Hotspots, die jetzt in Asylaufnahmeeinrichtungen entstehen können. Und wir werden digitaler werden. Also Online-Beratung wird ein ganz normales Instrument, ein ganz normales Tool werden.

Die menschennahe Caritas via Internet – passt das zusammen?

Unsere Konzeption sieht im Augenblick die Vermischung von digitalen Beratungsformen mit der nach wie vor notwendigen und auch von uns gewünschten Präsenzberatung. Unser aktuelles System ist bereits genau darauf ausgerichtet, diese Formen miteinander zu koppeln. Der persönliche Kontakt zum Klienten, zum Beratenden bleibt in vielen Fällen unverzichtbar. Dabei müssen wir aber auch wahrnehmen, dass viele junge Leute einen anderen Zugang wählen. Sie googeln eben, wenn das Kind schreit: „Kind schreit“. Und dann müssen wir für sie eine Antwort haben.

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