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Ganz vorsichtig geht sie vor und leise – Edeltraud Becker benötigt bei ihren Gesprächen mit trauernden Eltern ein feines Gespür. Allzu oft erleben sie das Gegenteil: Eltern, die gerade ein Kind verloren haben, noch während der Schwangerschaft oder kurz danach. Eltern, die nicht wissen, wohin mit Trauer und Schmerz.
Mütter, die ganz sanft schon den zarten Herzschlag ihres Kindes spüren konnten oder den daumengroßen Körper auf dem Ultraschall-Bildschirm erkannt haben. Paare, die von einer Zukunft als junge Familie träumten. Die nüchternen Worte eines Arztes haben sie jäh aus dem Traum gerissen, laut und brutal: „Ihr Baby hat es leider nicht geschafft.“
Zwischen leisen Tönen und lauten Motoren
Zwischen ganz leise und ganz laut, zwischen feinem Gespür und röhrendem Dröhnen – dazwischen bewegt sich auch das Leben der 67-Jährigen aus dem oldenburgischen Holdorf. Aber davon später mehr. Jetzt sitzt Edeltraud Becker noch an ihrem Küchentisch und rührt in ihrem Kaffee und erzählt, warum sie Eltern gestorbener Kinder einmal im Monat einlädt.
In der Zentrale der Malteser in Vechta können sie über ihre Trauer sprechen, auch über das Gefühl, nicht verstanden zu werden. „Viele Mütter hören zum Beispiel: ,Du bist ja noch jung. Du kannst noch viele Kinder kriegen.‘“ Edeltraud Becker schaut ernst, fast vorwurfsvoll und schüttelt den Kopf. „Das hilft ihnen aber nicht. Denn dieses Kind können sie nicht noch einmal kriegen! Egal, ob es nur ein paar Wochen oder neu Monate gelebt hat.“
Sie hat selbst einen schrecklichen Unfall erlebt
Eine Tochter oder einen Sohn zu verlieren – sie selbst hat so einen Verlust nie erleben müssen. Was ein unerwarteter Schicksalsschlag ist, weiß sie trotzdem ziemlich gut. Ihr eigener traf sie an einem Sonntag-Nachmittag im Januar 1975. Der Moment verbindet sie mit den trauernden Eltern in ihrem Gesprächskreis. Auch Edeltraud Beckers Leben änderte sich damals von heute auf morgen radikal.
Edeltraud Becker auf dem Nürburgring. | Foto: Michael Rottmann
23 Jahre jung war sie damals und freute sich auf eine unbeschwerte Zukunft. Ihr Mann arbeitete als Bauingenieur, sie hatte einen Job bei einer Bank. Noch zwei Wochen, dann wollten sie standesamtlich heiraten. Alles war vorbereitet. Doch dann der Schock. Er traf sie auf dem Weg zum Kaffeebesuch bei Verwandten. An einer Kreuzung krachte ein voll besetztes Auto von links in den Wagen des jungen Paares. Der Fahrer hatte einen Augenblick nicht aufgepasst.
Edeltraud Becker Leben hing an einem seidenen Faden
Edeltraud Beckers Mann wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und wie sie selbst schwer verletzt. Für einen Moment hing alles an einem seidenen Faden. Das Paar überlebte das Unglück, aber das neue Leben war nicht mehr das alte. An Arbeiten in ihrem alten Beruf war für Edeltraud Becker nicht mehr zu denken.
Sie erinnert sich noch gut an ihre Gedanken im Krankenhaus, direkt nach dem Unfall. „Ich habe damals mit Gott gehadert“, sagt sie fast schuldbewusst. „Ich habe gedacht: Lieber Gott, wenn du mich einigermaßen gut hier heraus kommen lässt, dann soll es dein Schaden nicht sein.“
Nach dem Unfall stürzte sich Edeltraud Becker in Ehrenämter
Sie hielt ihr Gelübde. Als junge Mutter stürzte sie sich mit Begeisterung in den Einsatz für ihre Gemeinde. Die Liste ihrer Ehrenämter ist lang. Sie war Katechetin, saß im Liturgieausschuss oder half als Lektorin und Kommunionhelferin in Gottesdiensten. Sie begleitete Gruppen zum Weltjugendtag und war bei Katholikentagen dabei. Später absolvierte sie Ausbildungen zur Küsterin, zur Leiterin von Wort-Gottes-Feiern und zur Notfall-Seelsorgerin.
Während einer Ausbildung zur Trauerbegleiterin lernte sie in einem Praktikum zum ersten Mal ihr heutiges Herzensthema kennen, in einem Gesprächskreis für trauernde Eltern. „Da spürte ich, wie mich ihre Sorgen berührten und mir mehr und mehr zu einem Anliegen wurden.“
Die Not trauernder Eltern berührte sie
Mittlerweile leitet sie die Treffen selber. Sie weiß gut, wie schwierig es für diese Eltern oft ist, zum Beispiel für das junge Paar, das sie vor Augen hat. Der Vater sagte ihr: „Wir haben zu Hause ein Kinderzimmer eingerichtet. Jetzt müssen wir eine Beerdigung organisieren.“ Dazu kommt: „Sie müssen sofort wieder funktionieren, fast niemand nimmt ihre Trauer ernst. Dabei leiden sie oft sehr an ihrer Situation.“
Und da sind oft quälende Fragen nach so etwas wie einer eigenen Schuld. „Hätten wir auf die Flugreise während der Schwangerschaft doch besser verzichten sollen? Und was war mit dem einen Glas Sekt ganz am Anfang?“
Edeltraud Becker weiß, wie wichtig Austausch ist
„Für die Eltern ist der Austausch untereinander sehr wichtig“, sagt Edeltraud Becker. Die Treffen bilden dafür einen festen Rahmen. Sie betont aber: „Wir bieten keine Therapie!“ Manche kommen dennoch jahrelang. Für viele ist es einmal im Monat eine feste Form der Erinnerung. Sie sagen: „Dieser Abend gehört meinem Sternenkind:“ So nennt man während oder kurz nach einer Schwangerschaft verstorbene Kinder.
Edeltraud Becker hilft auch, wenn es um eine würdige Bestattung geht. Egal, ob auf einem Friedhof, im Familiengrab oder an einem besonderen Platz für Sternenkinder auf einem Friedhof. Sie vermittelt auf Wunsch auch passende Baby-Bekleidung für die Bestattung. In einer Schachtel hält sie zu Hause eine Auswahl bereit.
Sie sieht sich auch als Lobbyistin für trauernde Eltern
Neben der praktischen Hilfe setzt sie sich für einen anderen Umgang mit dem Betroffenen ein, zum Beispiel in Krankenhäusern. Sie hat Info-Abende für Ärzte und Pflegepersonal organisiert und eine Broschüre für sie erstellt. Darin geht es zum Beispiel um Begriffe. Sie erklärt: „Was Eltern zum Beispiel oft schmerzt, ist der Begriff ,Fehlgeburt‘. Denn das Kind war ja kein Fehler! Deshalb ist es besser, von einer ,stillen Geburt‘ zu sprechen.“
Da ist er wieder: der Kontrast in Edeltraud Beckers Leben. Sie achtet auf die feinen Nuancen, hat ein Gespür für Feinheiten. Das ist aber nur die eine Seite. Die signierte Rennfahrer-Kappe eines Formel-1-Fahrers auf der Kommode im Hausflur der Beckers deutet auf eine andere hin – eine ganz andere.
Und Edeltraud Becker liebt röhrende Motoren
Edeltraud Beckers Augen strahlen, als sie davon erzählt. „Mein Leidenschaft ist der Rennsport“, sagt sie. „Ich liebe röhrende Motoren und den Geruch von Benzin in der Luft.“ Schon ihre Eltern nahmen sie zu Autorennen mit. „Als junge Frau wollte ich sogar selbst Rallyes fahren“, sagt sie. „1970 war ich drauf und dran, mich als Fahrerin zu bewerben.“ Das Veto ihres Vaters machte ihr damals einen Strich durch die Rechnung.
Aber immer noch steht sie gerne am Streckenrand, wenn es um Siege und Punkte geht. Und ihre zwei Kinder haben ein wenig vom großen Traum ihrer Mutter verwirklicht. Tochter Svenja Becker ist einzige Teamchefin im „Porsche-Carrera-Cup“, Sohn Jörn Becker arbeitet als Renn-Ingenieur in der Formel 1. Er lädt seine Eltern ab und zu zu Rennen ein, auf den Nürburgring oder nach Zandvoord zum Beispiel.
Ihre Kinder haben ein wenig von ihrem eigenen Traum verwirklicht
Jörn Becker hat auch die Rennsport-Kappe mit Autogramm besorgt, die im Flur auf der Garderobe liegt. Die Beckers wollen sie gleich einem schwerbehinderten jungen Mann in einem Nachbarort vorbeibringen. Er ist ebenfalls Formel-1-Fan und hatte sie sich gewünscht.
Stichwort: "Sternenkinder"
Als „Sternenkinder“ werden Kinder bezeichnet, die vor, während oder kurz nach ihrer Geburt gestorben sind. Um den Eltern dieser Kinder eine Möglichkeit zum Austausch mit anderen Betroffenen zu geben, bieten zum Beispiel die Malteser im Oldenburger Land für sie in ihrer Zentrale in Vechta, Am Lattweg 2, einen Gesprächskreis „Sternenkind-Eltern“ an. Edeltraud Becker leitet die Treffen an jedem ersten Montag im Monat um 19 Uhr. Weitere Informationen gibt es beim Malteser Hilfsdienst im Offizialatsbezirk Oldenburg, Telefon 0 44 41/9 25 00.