Gast-Kommentar von Caritaspräsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa

Suizidbeihilfe für alte und kranke Menschen: Gelegenheit macht tot

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Suizidhilfe soll unter bestimmten Voraussetzungen straffrei werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren geurteilt. Doch darf eine solche Assistenz nicht zur Normalität bei der Lebensbeendigung werden, sagt Caritaspräsidentin Eva Maria Welskopp-Deffaa in ihrem Gast-Kommentar.

Die Zahl der Suizide in Deutschland ist von 1990 bis 2019 um mehr als ein Drittel gesunken, es sterben aber noch immer wesentlich mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, AIDS, illegale Drogen und Gewalttaten zusammen. 40 Prozent von ihnen sind älter als 65.

In diese Realität fiel 2020 das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Suizidhilfe. Die dort zu beantwortende Frage, wer wem straffrei Suizidassis­tenz anbieten darf, betrifft faktisch ganz überwiegend den Suizid alter, kranker und behinderter Menschen, denn vor allem sie tun sich schwer, den Suizidgedanken ohne fremde Hilfe in die Tat umzusetzen. Junge Menschen stürzen sich von Brücken …

Suizidhilfe darf nicht Normalität werden

Die Autorin
Eva Maria Welskop-Deffaa (63) ist Präsidentin des Deutschen Caritasverbands. Die diplomierte Volkswirtin stammt aus Duisburg und hat am dortigen bischöflichen St.-Hildegardis-Gymnasium ihr Abitur gemacht.

An „Hotspots“ haben sich bauliche Maßnahmen als hochwirksam in der Suizidprävention erwiesen. Die Unzugänglichkeit des Kirchturms und die Einschränkung des Zugangs zu Suizidmitteln bewirken einen wichtigen Zeitgewinn in der suizidalen Krise. Nur wenige Menschen suchen eine andere Methode, wenn die gewählte durch Absicherung des Zugangs verhindert wird. Die mediale Verbreitung von Suizidmethoden und Berichte über Orte, an denen Menschen sich das Leben nehmen, hingegen führen zu einer Zunahme von Suiziden.

Ist es in Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils dennoch geboten, den Zugang zu tödlich wirkenden Mitteln zu erleichtern? Zwei Jahre später, nach den vielen einsamen Toden im Corona-Lockdown, während sterbende Angehörige in Krankenhäusern und Altenheimen nur kurz oder gar nicht besucht werden durften, lesen wir das Urteil neu: Deutlich fordert es, die Gefahr abzuwenden, dass sich Sterbe- und Suizidhilfe angesichts diverser Versorgungslücken in der Pflege zu normalen Formen der Lebensbeendigung entwickeln könnten.

Lebensbejahende Sorgekultur notwendig

Haben Sie Suizid-Gedanken?
Menschen mit Suizidgedanken können sich an die Telefonseelsorge wenden. Sie ist unter den Rufnummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 täglich rund um die Uhr erreichbar. Sie berät kostenfrei und anonym. Der Anruf findet sich weder auf der Telefonrechnung noch in der Übersicht der Telefonverbindungen wieder. Es gibt auch eine Online-Beratung über die Internet-Seite: www.telefonseelsorge.de

Der Gesetzgeber muss Schutz gewähren gegen gesellschaftliche Einwirkungen, die „als Pressionen wirken“. Er muss verhindern, dass alte und kranke Menschen in Rechtfertigungssituationen geraten können, wenn sie Suizidangebote seitens Dritter ausschlagen wollen.

Es ist für die Einrichtungen der Altenhilfe entscheidend, diese Passagen im nun anstehenden Gesetzgebungsprozess genau zu lesen. Die Einschränkung des Zugangs zu Suizidmitteln muss gewährleistet, die Palliativversorgung verbessert werden. Und es muss Ermessensentscheidung der Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens bleiben, sich konzeptionell als „Schutzraum“ zu verstehen, in dem Menschen sich aufgrund einer lebensbejahenden Sorgekultur aufgehoben fühlen – bis zuletzt.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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