Kirchen und Palliativmediziner kritisieren Urteil scharf

Bundesverfassungsgericht kippt Verbot organisierter Sterbehilfe

Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot organisierter Hilfe beim Suizid aufgehoben. Die beiden großen Kirchen und auch Palliativmediziner kritisierten das Urteil scharf.

 

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Das Bundesverfassungsgericht hat das Verbot organisierter Hilfe beim Suizid aufgehoben. Die beiden großen Kirchen und auch Palliativmediziner kritisierten das Urteil scharf.

Die Karlsruher Richter sehen durch das Verbot der Suizidbeihilfe unter anderem die Rechte von schwerstkranken Menschen verletzt. Die Vorschrift des Strafrechtsparagrafen 217 sei mit dem Grundgesetz unvereinbar, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle.

 

Gericht betont Recht auf selbstbestimmtes Sterben

 

Das Persönlichkeitsrecht umfasse ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, so die Verfassungsrichter. Dieses Recht schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.

Ausdrücklich sprechen die Richter dem Bundestag das Recht zu, die Suizidhilfe zu regulieren. Dabei müsse aber Raum zur Umsetzung einer Selbsttötung verbleiben. Die Entscheidung eines Einzelnen zur Selbsttötung bedürfe keiner Begründung, sagte Voßkuhle.

 

Kirchen: Einschnitt in die „Kultur des Lebens“

 

Die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sehen in dem Urteil einen „Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur“. Die Kirchen wollten sich weiter dafür einsetzen, dass „organisierte Angebote der Selbsttötung in unserem Land nicht zur akzeptierten Normalität werden“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung.

„Wir befürchten, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen“, so der Konferenzvorsitzende Kardinal Reinhard Marx und der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Heinrich Bedford-Strohm. „Je selbstverständlicher und zugänglicher Optionen der Hilfe zur Selbsttötung nämlich werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Menschen in einer extrem belastenden Lebenssituation innerlich oder äußerlich unter Druck gesetzt sehen, von einer derartigen Option Gebrauch zu machen und ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten.“

 

Palliativmediziner warnt: Sterbehilfe-Angebot schafft Nachfrage

 

Aus Sicht der Kirchen entscheiden sich an der Weise des Umgangs mit Krankheit und Tod grundlegende Fragen des Menschseins und des ethischen Fundaments der Gesellschaft. „Die Würde und der Wert eines Menschen dürfen sich nicht nach seiner Leistungsfähigkeit, seinem Nutzen für andere, seiner Gesundheit oder seinem Alter bemessen. Sie sind Ausdruck davon, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat und ihn bejaht und dass der Mensch sein Leben vor Gott verantwortet.

Der Vorsitzende der Deutschen Palliativstiftung, Thomas Sitte, kritisierte, durch das Karlsruher Urteil werde die Erleichterung der Selbsttötung zur „normalen“ Dienstleistung: „Wer Sterbehilfe erlaubt, macht über kurz oder lang Sterben zur Pflicht – erst recht in einer so ökonomisierten Gesellschaft wie der unseren.“

 

ZdK befürchtet Fremdbestimmung am Lebensende

 

Mit Bestürzung reagierte das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). „Dieses Urteil ist ein tiefer Einschnitt für den Schutz des Lebens in unserem Land“, sagte Präsident Thomas Sternberg. „Hier droht vielen Menschen statt der verheißenen Selbstbestimmung eine wachsende Fremdbestimmung am Lebensende.“

Dass Selbsttötung als Dienstleistung verfügbar werde, habe nichts mit der Achtung der Menschenwürde zu tun. Sternberg verwies auf Entwicklungen in Nachbarländern: Dort sei der Zugang zu ärztlicher Suizidassistenz und aktiver Sterbehilfe kontinuierlich ausgeweitet worden.

 

Auch Caritas und Ärzte lehnen Urteil ab

 

Auch der Deutsche Caritasverband bedauerte das Urteil. „Sterbenskranke Menschen brauchen eine Begleitung, die ihre Ängste und Nöte und die ihrer Angehörigen ernst nimmt. Sie müssen alle mögliche Unterstützung erfahren, um würdevoll sterben zu können“, sagte Präsident Peter Neher. „Sterbehilfe verstößt gegen die Menschwürde und gegen das christliche Menschenbild.“

Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, nach dem Ende des Verbots der Suizidbeihilfe befürchte er „Erwartungen auf einen regelhaften Anspruch auf ärztliche Unterstützung bei der Selbsttötung“. Ein solcher Anspruch stünde im „eklatanten Widerspruch zur medizinisch-ethischen Grundhaltung der Ärzteschaft“ und „liefe den grundlegenden Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten entgegen“.

 

Patientenschützer sehen „Irrweg“

 

Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), die Gesellschaft dürfe Sterbehilfe nicht als Normalfall zulassen. Jeder solle in Würde sterben können. „Das darf aber nicht dazu führen, dass sich Menschen fragen müssen: Darf ich noch da sein?“ Der evangelische Theologe plädierte für eine Kultur des Lebens, in der Suizid keine „Normaloption“ des Sterbens sei.

Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz hält das Karlsruher Urteil für falsch. „Eine Gesellschaft, die lernt, Angebote zur Selbsttötung zu akzeptieren, beschreitet einen Irrweg“, sagte Vorstand Eugen Brysch der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Erfahrungen in der Schweiz zeigten, dass mit der geschäftsmäßigen Verfügbarkeit die Nachfrage steige. Zugleich sinke die Suizidrate insgesamt dadurch nicht.

Update 12.45 Uhr: Reaktionen ZdK, Caritas, Ärzte.

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe
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