Schöppinger Familie nimmt ehemalige Praktikantin samt Familie auf

Flucht vor Ukraine-Krieg - so sind die Nosenkos im Münsterland gelandet

Familie Nosenko ist vor den Bomben in der Ukraine nach Deutschland geflüchtet und im Münsterland angekommen. | Video: Marie-Theres Himstedt

  • Alte Bekannte, neue Gäste: Die Nosenkos konnten aus der Ukraine nach Schöppingen im Münsterland flüchten.
  • Die Familie Halsbenning-Kestermann steht ihrer ehemaligen Praktikantin Tatiana und deren Familie bei.
  • Für die große Spendenbereitschaft aus der Nachbarschaft sind die Familien dankbar.

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Die geräumige Küche auf dem Hof Halsbenning-Kestermann in Schöppingen bietet vielen Menschen Platz. Frische, rosafarbene Tulpen stehen auf dem langen Tisch. Sophie Büning, die auf dem Betrieb eine Ausbildung in Hauswirtschaft absolviert, hat für alle frischen Kaffee gekocht. Tatiana Nosenko, ihr zehnjähriger Sohn Viktor, sowie ihre Eltern Nina und Volodymyr Udowenko sitzen gemeinsam mit Claudia Kestermann in großer Runde beisammen. Die zweitälteste Tochter Franziska, zuständig für die Lehrlinge in der Landwirtschaft, kommt just zur Frühstückspause ins Haus. Die Stimmung ist gefasst und ruhig.

„Wir haben gleich die nächsten Termine im Ort“, sagt Claudia Kestermann, die gemeinsam mit ihrem Mann Rudolf Halsbenning den Betrieb mit 50 Milchkühen und einem Schwerpunkt auf erneuerbaren Energien und nachhaltigem Ackerbau leitet. Für ihre ukrainischen Gäste stehen diese Woche in Deutschland die ersten Behördengänge an. Viktor wird an der Schöppinger Grundschule angemeldet, einen neuen Tornister hat er schon bekommen.

Ein Stück Normalität für Ukrainer

Ein Stück Normalität in einer Situation, die nicht normal ist, denn Viktor ist mit seiner Familie aus der Heimat vor dem Krieg geflohen – wie rund 150.000 weitere in Deutschland gemeldete Ukrainer derzeit. „Es ist wichtig, dass sie erst einmal hier zur Ruhe kommen und Struktur bekommen, nach allem, was sie erlebt haben“, sagt Claudia Kestermann. Die Gemeinschaft hilft, das Reden, Aufschreiben und Kontakt halten zu Verwandten, die in Polen und Russland leben: „Diese informieren wir besonders. Dort kommen kaum neutrale Informationen an“, sagt Tatiana. Claudia Kestermann nickt. Da der Ausbildungsbetrieb regelmäßig ausländische Studierende beherbergt, weiß sie um die Ängste ihres usbekischen Praktikanten, der sich derzeit in der Milchviehhaltung einbringt. Dessen Eltern, die in Russland arbeiten, erhielten kein Gehalt mehr: „Der Krieg kennt nur Verlierer. Die Menschen haben Angst“, stellt sie fest.

„Der Krieg ist würdelos.“ Volodymyr Udowenko, mit 69 Jahren der Älteste, macht nicht viele Worte. Es sei grauenvoll zu hören, wie in seiner Heimat Zivilisten sterben müssten, übersetzt seine Tochter. Er sei dankbar, jetzt hier sein zu können, auch wenn es das Wichtigste sei, wenn die Familie wieder vereint in der Ukraine in Frieden leben könne.

Einladung nach Deutschland per Facebook

Ein Trost für die ukrainische Familie im momentanen Zuhause: „Ich kenne Claudia und Rudolf von früher“, berichtet Tatiana Nosenko in fast flüssigem Deutsch. Im Rahmen ihres tiermedizinischen Studiums kam sie als 20-Jährige aus der Ukraine für ein Praktikum auf den Hof der Halsbennings und hat den Kontakt immer gehalten. Als die Einladung der Schöppinger über Facebook kam, hat sie zugesagt, ein erneutes Wiedersehen hätte sie sich allerdings unter anderen Umständen gewünscht.

Eigentlich arbeitet die 37-Jährige als Expertin für Lebensmittelsicherheit in einem Labor in der Ukraine. Ihr Ehemann, 39 Jahre alt, ist Anwalt, sie leben gemeinsam im Zentrum des osteuropäischen Landes. Unversehens werden sie aus ihrem Alltag gerissen, wie sie beschreiben: „Wir wollten am 24. Februar gemeinsam in unserer Stadt den Geburtstag meiner Schwiegermutter feiern. Mein Mann kaufte noch früh morgens Blumen, um seiner Mutter zum Geburtstag zu gratulieren. Als er nach Hause zurückkehrte, fing er an, die Nachrichten zu lesen und erfuhr von den Raketenangriffen auf Militäranlagen im ganzen Land und den Meldungen von einer Bodeninvasion der russischen Armee.“ Tatsächlich ist es der erste Tag des Krieges.

„Wir hörten auch mehrere Explosionen nahe unserer Wohnung, und einige Stadtbewohner wurden aus ihren Häusern evakuiert.“ Die Nosenkos überlegten nicht lange: „Meine Eltern und ich organisierten sofort die Abschiebung von drei meiner jungen Neffen nach Polen. Mein Mann, mein Kind und ich blieben noch ein paar Tage zu Hause. Wir haben Binnenvertriebene beraten und unterstützt. Oft wurden Sirenen geblasen und Luftangriffe geblasen. Wir suchten Schutz in einem engen Raum ohne Fenster, schliefen auf dem Boden. Ein paar Tage später gab es in unserer Straße einen Vorfall im Zusammenhang mit einer Luftdrohung.“ Ihr Mann fürchtet um sein Leben, zumal „im Norden, Osten und Süden der Ukraine sehr aktive Feindseligkeiten und eine ständige Bedrohung aus der Luft herrschten“, wie er schreibt.

Spendenbereitschaft überwältigend

Stehen zusammen in schweren Zeiten: Franziska Halsbenning, Viktor und Tatiana Nosenko, sowie ihre Eltern Nina und Volodymyr Udowenko, Claudia Kestermann, Rudolf Halsbenning und Sophie Büning. | Foto: mth
Stehen zusammen in schweren Zeiten: Franziska Halsbenning, Viktor und Tatiana Nosenko, sowie ihre Eltern Nina und Volodymyr Udowenko, Claudia Kestermann, Rudolf Halsbenning und Sophie Büning. | Foto: mth

„Wir haben entscheiden, dass mein Kind und ich an einen sicheren Ort gehen mussten. Da Luftangriffe fast überall in der Ukraine stattfinden, war es nur in der Europäischen Union möglich, sicher zu sein.“ Der Weg zur polnischen Grenze dauerte mit dem Auto zwei Tage: „Wir mussten die Grenze zu Fuß überqueren, und es sind Tausende von Menschen, Frauen mit Kindern, Behinderte, Alte. Tränen und Abschiedsschmerz mit Verwandten!“ Trotz allem ist der Grenzübertritt vereinfacht und sehr gut organisiert, sie seien der Regierung Polens und den Bürgern sehr dankbar, wie die Kriegsflüchtlinge betonen.

Für die Landwirtsfamilie, die mit drei Generationen auf dem Hof lebt, war es überhaupt keine Frage, Familie Nosenko Zuflucht anzubieten: „Die Spendenbereitschaft aus der Nachbarschaft war überwältigend“, sagt Claudia Kestermann, die aber darum bittet, Sachspenden nun direkt in die wieder eröffnete zentrale Unterbringungseinrichtung nach Schöppingen zu bringen. 400 Menschen werden dort ab Ende März aufgenommen.

Bitte um Flugverbotszone über der Ukraine

Am Tisch planen die Familien die nächsten Schritte, natürlich ist nicht alles einfach: „Es gibt eine Sprachbarriere, aber wir wollen Deutsch lernen und etwas über die deutsche Kultur erfahren“, betont Tatiana Nosenko. Was die Situation in der Ukraine betrifft, so ist die ukrainische Armee geistig sehr stark, wie sie sich ausdrückt, „und wird in der Lage sein, ihr Heimatland zu verteidigen.“ Im Moment fehle es an Ausrüstung und Waffen: „Wir sind den Ländern der Welt für diese Hilfe dankbar. Aber das Wichtigste, was jetzt helfen kann, den Krieg zu beenden und noch größere Opfer unter der Zivilbevölkerung zu verhindern, ist die Schaffung einer Flugverbotszone über dem Territorium der Ukraine, damit russische Flugzeuge und Raketen die Ukraine nicht treffen können.“

Wann sie ihren Mann wieder sehen wird, bleibt ungewiss. Was bleibt, sei „der Herzschmerz“.

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