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Was macht einen Menschen aus? Das fragt sich Ludger Ernsting, Pfarrer in Recklinghausen, in seinem Gast-Kommentar. Er erzählt vom stadtbekannten Obdachlosen Detlev S.: Dessen "heilsam störende Stimme" hätte manchen kirchlichen Kreisen gut getan.
Was macht einen Menschen aus? Das fragt sich Ludger Ernsting, Pfarrer an der Gastkirche in Recklinghausen. Er beantwortet die Frage, indem er von Detlev S. erzählt. Einem stadtbekannten Obdachlosen. Im Gast-Kommentar zeigt Ernsting, warum Detlevs "heilsam störende Stimme" manchen kirchlichen Kreisen gut getan hätte.
Vor einigen Wochen ist ein Recklinghäuser Obdachloser verstorben. Detlev S. war ein bekanntes Gesicht auf den Straßen und Plätzen der Innenstadt. Sieben Jahre lebte er auf der Straße.
Mit seinem ausgeprägten Bart und der nie verglimmenden selbstgedrehten Zigarette konnte man ihn oft im leidenschaftlichen Gespräch über Kunst, philosophische Fragen und gesellschaftliche Themen erleben. Er war ein kritischer Beobachter, der in seiner Leidenschaft auch das Streitgespräch suchte. Manche Mitmenschen durften oder mussten auch dabei seine zornige Seite kennenlernen.
Der Autor
Ludger Ernsting ist Pfarrer an der Gastkirche Recklinghausen, einem Ort von Sozial- und Stadtpastoral. Er gehört dem Priesterrat und dem Diözesanrat im Bistum Münster an.
Detlev S. hat in jungen Jahren in Berlin Kunst studiert. Manche Bilder vertrieb er für seinen Lebensunterhalt als Postkarten. Neben dem Malen und Zeichnen galt sein Interesse der Dichtung. Er verstand sich als jemand, der dazwischen rief. So formulierte er in den 1980er Jahren schon unter der Überschrift „Rüstungsindustrie“: „Am Krieg kann man Milliarden verdienen – aber nur wenn Abermillionen Menschen sterben.“
Mit Blick auf die Armut wagte er poetisch auszudrücken: „Manche essen, weil sie Appetit haben, viele würden gerne essen, weil sie Hunger haben“. Und mit hintergründigem Humor formulierte er 2018: „Gott ist tot! Nietzsche auch!“
Eine heilsam störende Stimme
Überhaupt waren Religion und Kirche für ihn ein elementares Feld der Auseinandersetzung. Er kannte und nannte die Sünden der Institution durch alle Jahrhunderte – und doch ließ ihn die religiöse Frage nicht in Ruhe. Er hatte ein Gespür dafür, wo man den Blick auf den biblischen Gott verstellt oder missbräuchlich instrumentalisiert. Seine Stimme hätte mancher Zusammenkunft in kirchlichen Kreisen heilsam störend gut getan, weil sie das Ursprüngliche und das Unverstellte suchte.
Die Diskussion mit ihm war nicht immer leicht auszuhalten – und doch waren die Gespräche mit ihm ein Ringen um die Gottesfrage an Orten, wo kaum jemand dieses suchende Ringen vermutet. Was ist ein Mensch? Äußerlich war Detlev heruntergekommen, aber innerlich war der „heruntergekommene Gott“ als Frage, Suche und auch als Störfaktor da – in und bei ihm. Ich habe von ihm Gotteswege gelernt – und manche Frage, die wir innerkirchlich kaum noch stellen. Ist das nicht etwas, das einen Menschen ausmacht?
Im Sommer dieses Jahres wäre Detlev S. 70 Jahre geworden. Mit seinem Tod fehlt ein eigener, häufig eigenwilliger und stets wacher und kreativer Kopf, ein kämpferischer „Gottsucher“ und ein vertrautes Gesicht in unserer Stadt.
Die Positionen der Gastkommentare spiegeln nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von „Kirche+Leben“ wider.