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Vor einem Jahr hat Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine – begonnen 2014 auf der Krim und in der Ostukraine – auf das ganze Land ausgeweitet. Wo stehen wir heute? Antworten von Franz-Josef Overbeck, dem katholischen Militärbischof in Deutschland.
Herr Bischof, seit einem Jahr greift Russland die gesamte Ukraine an, die wiederum der Westen unterstützt. Wie soll der Krieg unter diesen Umständen enden?
Der schreckliche Angriffskrieg stellt auf der Rechtsebene einen eklatanten Bruch des Völkerrechts dar. Hier zeigt sich der niederträchtige Versuch, die Stärke des Rechts durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen. Je länger dieser Krieg andauert, desto deutlicher wird, dass es sich auch um einen Machtkonflikt zwischen einer autoritären und einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung handelt, der religiös enorm aufgeladen ist. Leider sehe ich gegenwärtig keine Signale, die darauf hindeuten würden, dass es auf der Seite des Aggressors den politischen Willen zu einem Frieden gibt, der der Stärke des Rechts folgt und nicht weiter auf das Recht des Stärkeren setzt. Ich bin überaus besorgt darüber, wie sehr dieser brutale Krieg von religiösen Autoritäten in Russland verklärt wird, nämlich als wahrhaft christlicher „Kampf des Lichts“ gegen die „Kräfte des Bösen“. Dieser Logik dürfen wir nicht folgen, denn sie birgt ein enormes Eskalationspotenzial. Gerade weil ich mich entschieden für eine Ökumene des Friedens einsetze, bleibe ich in einem Punkt sehr klar: Es herrscht das absolute Verbot, einen Angriffskrieg zu führen. Wenn wir diese Grundlage des Völkerrechts zur Disposition stellen, dann kann es keinen gerechten Frieden mehr geben.
Sie rufen dazu auf, das Ziel eines „gerechten Friedens“ im Blick zu behalten. Was heißt das konkret?
Im Jahr 2000 haben die katholischen Bischöfe in Deutschland zum letzten Mal eine umfangreiche Denkschrift zur friedensethischen Situation der Zeit veröffentlicht. Sie trägt den Titel „Gerechter Friede“ und spannt einen weiten Bogen von der biblischen Urgeschichte über Jesu Leben, Tod und Auferstehung zum Leitbild eines „gerechten Friedens“ in unserer Zeit. Dieser Wandel in der Perspektive kirchlicher Lehre weg von der Frage nach dem gerechten Krieg hin zum Blick auf den gerechten Frieden ist in der Theologie als ein Paradigmenwechsel beschrieben worden. Es geht um einen weiten Friedensbegriff, der nach den Bedingungen des Gelingens von Frieden fragt, denn Frieden ist mehr als das Schweigen der Waffen. Aspekte wie die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit für alle Menschen sind für einen gerechten Frieden von zentraler Bedeutung.
Zuletzt hat der Westen der Ukraine Kampfpanzer zugesagt, um ihre Gebiete zurückzuerobern. Kritiker sehen die Nato und Deutschland damit auf dem Weg zur Kriegspartei. Sie auch?
Ob der Krieg in einem Stadium angekommen ist, in dem solche schweren Waffen der Ukraine zur Verfügung gestellt werden müssen, ist eine Frage, die politische Verantwortungsträger auf der Grundlage entsprechender Informationen zu beantworten haben – auch unter Berücksichtigung der Eskalationsdynamik, die vielleicht damit einhergehen könnte. Ich kann die Entscheidung, solche Waffen jetzt zu liefern, nachvollziehen, würde aber als Seelsorger niemals von einem Gutheißen sprechen, denn auch diese Waffen sorgen für entsetzliches Leid.
Wo wäre für Sie eine Grenze überschritten bei der militärischen Unterstützung der Ukraine durch Deutschland und die Nato?
Hier muss das Völkerrecht der Maßstab sein. Ich sehe dann eine klare Grenze der militärischen Unterstützung überschritten, wenn der Tatbestand des Einsatzes von Waffengewalt gegen russische Soldaten durch Deutschland und die Nato erfüllt wäre. Unter einer völkerrechtlichen Perspektive sind Waffenlieferungen und auch die Ausbildung ukrainischer Soldaten an diesen Waffen erlaubt, ohne als Kriegspartei zu gelten. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass ich alle Waffenlieferungen, die das Völkerrecht zulässt, damit auch automatisch gutheiße. Diese Ebenen müssen deutlich getrennt werden.
Das Magazin „Spiegel“ meldet unter Berufung auf interne Zahlen des Verteidigungsministeriums, 2022 hätten 235 aktive Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr nachträglich den Kriegsdienst verweigert, 2021 seien es lediglich 176 gewesen. Wie bewerten Sie das?
Viele Soldatinnen und Soldaten treibt sicher auch die seelisch belastende Frage um, welche Szenarien drohen, sollte der Konflikt noch weiter eskalieren. Kriegsdienstverweigerung ist ein Grundrecht und es ist selbstverständlich eine bedeutsame Aufgabe der Militärseelsorge, nachträgliche Kriegsdienstverweigerer in ihrem Gewissenskonflikt zu begleiten.
Im Zug des Ukraine-Kriegs ist oft von einer „Zeitenwende“ für die Bundeswehr die Rede. Was hat sich für die Militärseelsorge verändert?
Durch die Beteiligung der Bundeswehr an der EU-Ausbildungsmission EUMAM für die Ukraine, der Gefechtsausbildung ukrainischer Soldaten und ihrer Ausbildung an abgegebenem Material sind viele Soldatinnen und Soldaten anders mit der tragischen Realität des Einsatzes von Waffengewalt konfrontiert. Wie sieht die Zukunft der hier ausgebildeten ukrainischen Soldaten aus, die in Kampfeinsätze verwickelt sein werden? Wie kann ein angemessener Einsatz von Waffengewalt aussehen und welche Unterstützung ist geboten? Das für sich zu beantworten, ist alles andere als leicht und stellt auch die Militärseelsorge vor neue Herausforderungen. Ich sichere den Soldatinnen und Soldaten zu: Die Militärseelsorge bleibt stets an ihrer Seite. Wir bieten an ihren Standorten im In- und Ausland immer eine Möglichkeit zum Gespräch, in dem ausschließlich die Sorgen und Nöte der Person zählen, vertraulich und unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung. Wo die Soldatinnen und Soldaten sind, da sind auch wir.